Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rattentanz

Titel: Rattentanz
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
Stellen, an denen man sauberes Trinkwasser entnehmen konnte und der Viehtränke gelegen, diente als Badeplatz. Malow wusch sich den Schmutz der Reise vom Körper, zog frische Sachen an und kam gerade rechtzeitig zurück, um Larissa zu begrüßen. Das Kind hat te seinen Mittagsschlaf beendet und krabbelte fröhlich über die Wiese hinter Fausts Haus. In letzter Zeit richtete sie sich immer öfter auf, zog sich an Stühlen und Tischen hoch auf ihre noch unsicheren Beine. Als sie Malow sah, flog ein Lachen über ihr Gesicht, sie streckte ihm ihre Arme entgegen, verlor das Gleichgewicht und plumpste auf den Po.
    »Mallo!«, rief sie.
    Malow bückte sich, nahm das Fliegengewicht in die Arme und hob es über seinen Kopf.
    »Bist du groooß geworden!« Er küsste sie auf die Stirn, dann warf er sie in die Luft, Larissa quiekte, er küsste sie noch einmal und setzte sie schließlich zurück ins Gras.
    »Nomma! Nomma!«, forderte Larissa.
    »Später, mein Schatz. Versprochen. Erst muss mir deine Mama die Haare waschen.«
    Silvia hatte die Begrüßung der beiden mit einem flauen Gefühl in der Magengrube verfolgt. Larissa hatte die raue Schale des alten Mannes mit der Leichtigkeit eines Kindes geknackt. Kindern ist das Gestern egal, ist die Zukunft einerlei. Wichtig ist nur das Jetzt. Larissa interessierte nicht, dass Malow seine Frau verlassen und in den ersten Tagen ihrer Begegnung am liebsten auch sie und ihre hässliche Mutter irgendwo am Wegrand zurückgelassen hätte. Larissa war die bevorstehende Hinrichtung ebenso egal wie die Sorgen der Erwachsenen, die sie nicht verstand. Sie wollte nur satt sein, spielen und geliebt werden und, wie es aussah, wurde sie von Malow geliebt.
    Malow ging ins Bad, Silvia folgte ihm mit zwei Eimern lauwarmem Wasser. Er kniete sich hin und hielt den Kopf über die Wanne.
    »Larissa mag dich«, sagte Silvia, während sie seinen Kopf einseifte.
    »Schon möglich«, knurrte Malow. Seifenwasser lief ihm in den Mund, er verschluckte sich und spuckte in die Wanne. »Kinder mögen jeden, der sich mit ihnen abgibt.«
    »Es ist gut, wenn ein Kind jemanden hat, der es liebt. Kinder brauchen Geborgenheit und Wärme.« Sie massierte Malows Kopfhaut, für sein Alter hatte er noch bemerkenswert volles Haar, dachte sie. »Ich war zehn«, begann sie plötzlich, »als ich auf dem zugefrorenen See hin ter unserem Haus rutschen war. Meine Eltern konnten sich keine Schlittschuhe für mich leisten, also habe ich mir auf dem Eis eine Rutschbahn gebaut. Allein, wie immer. Die anderen Kinder spielten zusammen hundert Meter entfernt. Es war ein herrlicher Tag und ich glaube, ich bin so weit gerutscht wie nie zuvor. Dann bin ich eingebro chen. Ein Spaziergänger hat mich gerettet. Er hat mich mit einem Stock aus dem Wasser gezogen und mir in den Magen geboxt, das jedenfalls erzählten die anderen Kinder. Als ich alles Wasser erbrochen hatte und wieder atmete, hat er seinen Mantel aufgeknöpft, seinen Pul lover hochgezogen, mir die nassen Sachen vom Körper gerissen und mich an sich gepresst und gewärmt. So bin ich aufgewacht. Es war der schönste Moment meines Lebens. Bis zu Larissas Geburt hatte sich nichts daran geändert.«
    Sie fand, Malow hatte schönes Haar.
    Punkt sechs am Abend versammelte sich das komplette Dorf in der Ortsmitte. Treffpunkt war die kleine Wiese gegenüber dem Gasthaus. Die Wiese, neben dem Bach gelegen, diente drei Ziegen als Weide. Die Ziegen hatte Lydia Albicker gegen eine ihrer Kühe bei Friedbert Frey in Brunnadern eingetauscht und es war Aufgabe der Kinder im Dorf, die beiden weiblichen Tiere vor und nach dem Unterricht zu melken, sie zu füttern und den kleinen Unterstand, der vor Regen und Kälte Schutz bot, zu misten. Die Milch bekam Bea Baumgärtner, die ihn zu einem gefragten Käse verarbeitete.
    Bardo Schwab und seine Helfer hatten in aller Eile einen Galgen errichtet. Die Konstruktion aus alten Balken erhob sich drei Meter hoch über ein mehr als mannshohes Podest. In dieses Podest wiede rum hatte Schwab eine Falltür eingelassen. Mit etwas mehr Zeit, erzählte er jedem, wäre der Galgen gerade, würde die Falltür sauberer schließen und wären die groben Bretter auf dem Podest glatt wie ein Kinderpopo abgehobelt.
    Markus Thomas, der Lehrer, war am Nachmittag mit allen Kindern unter sechzehn Jahren in den Wald aufgebrochen, unter ihnen auch Lea Seger. Thomas schloss sich den Kindern an, auch wenn Nummer drei sich kaum beruhigen konnte, zeterte, schrie, Thomas beschimpfte und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher