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Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen

Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen

Titel: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen
Autoren: Heinrich Mann
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gelesen hatten, sahen alle einander an. Denn alle »saßen drin«. Unrat hatte sie »hineingelegt«. Er ließ sich mit einem schiefen Lächeln im Lehnstuhl auf dem Katheder nieder und blätterte in seinem Notizbuch.
    »Nun?« fragte er, ohne aufzusehn, als sei alles klar, »wollen Sie noch was wissen? … Also los!«
    Die meisten knickten über ihrem Heft zusammen und taten, als schrieben sie schon. Einige starrten entgeistert vor sich hin.
    »Sie haben noch fünfviertel Stunden«, bemerkte Unrat gleichmütig, während er innerlich jubelte. Dieses Aufsatzthema hatte noch keiner gefunden von den unbegreiflich gewissenlosen Schulmännern, die durch gedruckte Leitfäden es der Bande ermöglichten, mühelos und auf Eselsbrücken die Analyse jeder beliebigen Dramenszene herzustellen.
    Manche in der Klasse erinnerten sich des zehnten Auftritts im ersten Aufzug und kannten beiläufig die zwei ersten Gebete Karls. Vom dritten wußten sie nichts mehr, es war, als hätten sie es nie gelesen. Der Primus und noch zwei oder drei, darunter Lohmann, waren sogar sicher, sie hätten es nie gelesen. Der Dauphin ließ sich ja von der Prophetin nur zwei seiner nächtlichen Bitten wiederholen; das genügte ihm, um an Johannas Gottgesandtheit zu glauben. Das dritte stand schlechterdings nicht da. Dann stand es gewiß an einer andern Stelle oder ergab sich irgendwo mittelbar aus dem Zusammenhang; oder es ging gar ohne weiteres in Erfüllung, ohne daß man wissen konnte, hier ging etwas in Erfüllung? Daß es einen Punkt geben konnte, wo er niemals aufgemerkt hatte, das gab auch der Primus Angst im stillen zu. Auf alle Fälle mußte über dieses dritte Gebet, ja selbst über ein viertes und fünftes, wenn Unrat es verlangt hätte, irgend etwas zu sagen sein. Über Gegenstände, von deren Vorhandensein man nichts weniger als überzeugt war, etwa über die Pflichttreue, den Segen der Schule und die Liebe zum Waffendienst, eine gewisse Anzahl Seiten mit Phrasen zu bedecken, dazu war man durch den deutschen Aufsatz seit Jahren erzogen. Das Thema ging einen nichts an; aber man schrieb. Die Dichtung, der es entstammte, war einem, da sie schon seit Monaten dazu diente, einen »hineinzulegen«, auf das gründlichste verleidet; aber man schrieb mit Schwung.
    Mit der »Jungfrau von Orleans« beschäftigte die Klasse sich seit Ostern, seit dreiviertel Jahren. Den Sitzengebliebenen war sie sogar schon aus dem Vorjahr geläufig. Man hatte sie vor- und rückwärts gelesen, Szenen auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa zurück in Verse. Für alle, die beim ersten Lesen Schmelz und Schimmer auf diesen Versen gespürt hatten, waren sie längst erblindet. Man unterschied in der verstimmten Leier, die täglich wieder einsetzte, keine Melodie mehr. Niemand vernahm die eigen weiße Mädchenstimme, in der geisterhafte, strenge Schwerter sich erheben, der Panzer kein Herz mehr deckt und Engelflügel, weit ausgebreitet, licht und grausam dastehn. Wer von diesen jungen Leuten später einmal unter der fast schwülen Unschuld jener Hirtin gezittert hätte, wer den Triumph der Schwäche in ihr geliebt hätte, wer um die kindliche Hoheit, die, vom Himmel verlassen, zu einem armen, hilflos verliebten kleinen Mädel wird, je geweint hätte, der wird nun das alles nicht so bald erleben. Zwanzig Jahre vielleicht wird er brauchen, bis Johanna ihm wieder etwas anderes sein kann als eine staubige Pedantin.
    Die Federn kritzelten; Professor Unrat lugte, mit nichts weiter beschäftigt, über die gebeugten Nacken hinweg. Es war ein guter Tag, an dem er einen »gefaßt« hatte, besonders wenn es einer war, der ihm »seinen Namen« gegeben hatte. Dadurch ward das ganze Jahr gut. Leider hatte er schon seit zwei Jahren keinen der heimtückischen Schreier mehr »fassen« können. Das waren schlechte Jahre gewesen. Ein Jahr war gut oder schlecht, je nachdem Unrat einige »faßte« oder ihnen »nichts beweisen« konnte.
    Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und gehaßt wußte, behandelte sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man nicht genug »hineinlegen« und vom »Ziel der Klasse« zurückhalten konnte. Da er sein Leben ganz in Schulen verbracht hatte, war es ihm versagt geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Perspektive des Erfahrenen zu schieben. Er sah sie so nah, wie einer aus ihrer Mitte, der unversehens mit Machtbefugnissen
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