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Perfekt

Titel: Perfekt
Autoren: Judith McNaught
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bezeichnete. Nach dieser Lektüre hatte Dr. Wilmer angenommen, Julie Smith sei ein streitsüchtiges, hartgesottenes und frühreifes Mädchen, deren Kontakte zu älteren Jungen möglicherweise sogar bereits sexueller Natur wären. Die Ärztin war deshalb sehr überrascht gewesen, als das Kind vor zwei Monaten zum ersten Mal in ihrem Büro erschienen war: ein schmutziger kleiner Kobold in Jeans und einem zerlumpten Sweatshirt, das lockige dunkle Haar knabenhaft kurz geschnitten. Dr. Wilmer hatte eine angehende Femme fatale erwartet, doch statt dessen blickte sie in ein jungenhaft spitzbübisches Gesicht, das von großen, dunkelblauen Augen, umrahmt von dichten langen Wimpern, beherrscht wurde. Dieses aparte Gesichtchen mit den faszinierenden Augen aber stand in auffälligem Gegensatz zu der gespielten Tapferkeit, mit der Julie sich bei jenem ersten Besuch vor Dr. Wilmers Schreibtisch aufgebaut hatte - das kleine Kinn vorgestreckt und die Hände in den hinteren Hosentaschen ihrer Jeans vergraben.
    Theresa hatte dieses erste Treffen tief beeindruckt, doch war sie bereits vorher von Julie fasziniert gewesen. Begonnen hatte es an dem Abend, an dem sie die Unterlagen des Mädchens durchgeblättert und die Antworten des Kindes auf jene Fragen gelesen hatte, die zu einem von Theresa erst kürzlich entwickelten Einstufungstest gehörten. Als sie damit fertig war, hatte Dr. Wilmer Einblick in die empfindsame Psyche dieses Kindes gewonnen. Sie konnte sich die Pein und das Elend vorstellen, die Julie durchlitt: Von seinen leiblichen Eltern verlassen und zweimal von Pflegeeltern zurückgewiesen, hatte das Mädchen seine Kindheit am Rande der Chicagoer Slumgebiete verbracht, von einem überfüllten und anonymen Waisenhaus in das nächste abgeschoben. So lernte Julie menschliche Wärme nur von ihren Kameraden kennen - schmuddeligen, vernachlässigten Kindern, die sie als ihresgleichen ansah; Kindern, die ihr beibrachten, wie man in Kaufhäusern stahl, und die sie später dazu überredeten, mit ihnen zusammen die Schule zu schwänzen. Ihr wacher Verstand und ihre Geschicklichkeit hatten Julie darin so erfolgreich werden lassen, daß sie auch von älteren Kindern geachtet wurde und sich einer gewissen Popularität erfreute. Vermutlich war dies auch der Grund dafür, daß eine Gruppe halbstarker Jugendlicher ihr vor einigen Monaten gezeigt hatte, wie man Autos knackte und kurzschloß - eine Unterrichtsstunde, die sie teuer bezahlen mußte, denn ein wachsamer Polizist hatte die Gruppe beobachtet und alle, auch Julie, die lediglich zugesehen hatte, in Haft genommen.
    Es war das erste Mal, daß das Mädchen offiziell mit dem Gesetz in Konflikt kam, doch bedeutete dies gleichzeitig auch die erste große Wende in Julies Leben, denn dadurch wurde Dr. Wilmer auf sie aufmerksam. Nachdem Julie - eigentlich unschuldig - wegen versuchten Autodiebstahls festgenommen worden war, wurde sie in das von Dr. Wilmer erst kürzlich entwickelte Versuchsprojekt aufgenommen. Dazu gehörten eine Reihe psychologischer Tests, Intelligenztests sowie Befragungen durch Psychiater und Psychologen, die mit der Ärztin zusammenarbeiteten. Ziel dieses ausschließlich von freiwilligen Mitarbeitern getragenen Projekts war es, in staatlichem Gewahrsam befindliche Jugendliche von ihrem kriminellen Kurs abzubringen und wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
    In Julies Fall war Dr. Wilmer wild entschlossen, genau dies zu tun, und jeder, der sie kannte, wußte, daß ein einmal von ihr gefaßter Entschluß auch in die Tat umgesetzt wurde. Die Ärztin war fünfunddreißig Jahre alt und fiel durch ein bezauberndes Lächeln und einen eisernen Willen auf. Außer einer Reihe eindrucksvoller akademischer Titel und einer ausgesprochen vornehmen Abstammung verfügte sie über drei weitere herausragende Eigenschaften: Intuition, Mitgefühl und die Fähigkeit, sich einer Sache völlig hinzugeben. Mit dem ruhelosen Eifer eines wahren Missionars gesegnet, hatte Theresa Wilmer ihre gutgehende Privatpraxis aufgegeben. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt jetzt jenen Jugendlichen, die Opfer der hoffnungslos überfüllten und finanziell unterversorgten Waisenhäuser geworden waren. Zu diesem Zweck scheute Dr. Wilmer nicht davor zurück, alle irgendwie verfügbaren Hilfsmittel auszuschöpfen und auch Kollegen wie John Frazier mit in das Projekt einzubeziehen. In Julies Fall baute sie sogar auf die Hilfsbereitschaft entfernter Verwandter, die zwar nicht reich waren, aber in ihrem Heim und
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