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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn
Autoren: Boris Akunin
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daran, dass man auch mich töten würde, so sehr ärgerte ich mich über mich selbst. Wie lange hatte ich gebraucht, ihn zu finden! Und ich hatte doch so deutlich gefühlt, dass mir die Zeit davonlief!
    Aber der rundgesichtige Mörder versetzte mir noch einen weiteren Schlag. »Vielen Dank, Schwester, du hast eine Spürnase wie ein Bluthund. Du hast mich schnurstracks zu meiner Beute gebracht.« Mir wurde ganz schlecht, als er das sagte. Also war ich schuld daran, dass sie Immanuel gefunden hatten ? Ich war an allem schuld!
    Aber das Schlimmste war, dass ich mich in diesem schrecklichen Moment ganz schändlich verhielt, wie ein hysterisches Weib: Ich fing an zu heulen. Schmerz und Scham schnürten mir die Kehle zu, ich fühlte mich wie die jämmerlichste Kreatur auf der ganzen weiten Welt.
    »Was denn, kein Schatz? Schade. Aber ich freue mich trotzdem über unsere Begegnung, außerordentlich sogar«, spottete der Bösewicht. »Ich würde auch gern noch ein wenig mit euch plaudern, aber die Pflicht ruft, die Arbeit muss getan werden.« Und schon hob er die Waffe, bereit zu schießen. Aber da schob Immanuel mich auf einmal zur Seite und machte einen Schritt auf den Mörder zu.
    »Du verdienst dein Geld damit, dass du Menschen tötest? Das ist deine Arbeit?«, fragte er – überhaupt nicht zornig oder tadelnd, sondern eher neugierig, es klang beinahe, als freute er sich.
    »Zu Ihren Diensten.« Der Rundgesichtige machte eine scherzhafte Verbeugung, als empfinge er ein verdientes Kompliment. Er fühlte sich offensichtlich vollkommen als Herr der Lage und hatte nichts dagegen, die Ausführung seines schändlichen Vorhabens noch etwas aufzuschieben.
    »Wie gut, dass wir uns begegnet sind!«, rief Immanuel »Genau so jemanden wie dich brauche ich!«
    Er machte noch einen Schritt auf ihn zu und breitete die Arme aus, als wollte er den Halunken an seine Brust drücken.
    Der aber wich flink zurück und hob den Revolver an, sodass die Mündung direkt auf die Stirn des Propheten zeigte. Sein Gesichtsausdruck wechselte von Hohn zu Wachsamkeit.
    »Na, na«, begann er, aber Immanuel unterbrach ihn sofort. »Ich brauche dich, und du brauchst mich! Ich bin ja extra deinetwegen hier!« »Wie meinst du das?«, fragte der Mörder verdattert, und ich dachte mit Grauen: Jetzt schießt er. Immanuel dagegen beachtete die Waffe gar nicht, er schien überhaupt keine Angst zu haben. Im Nachhinein denke ich, dass dies für-wahr ein sonderbarer Anblick gewesen sein muss: Ein Unbewaffneter geht auf einen Bewaffneten zu, und dieser weicht Schritt für Schritt immer weiter vor ihm zurück.
    »Es gibt ja niemanden auf der Welt, der unglücklicher wäre als du. Deine Seele ruft um Hilfe, denn der Teufel hat Gott aus ihr verdrängt. Das Gute in der Seele, das ist Gott, und das Böse ist der Teufel. Hat man dir das als kleines Kind nicht beigebracht?« – »Ah«, grinste der Mörder. »Das soll wohl eine Predigt werden?! Da hast du aber den Falschen erwischt. . .«
    Ich hörte, wie der Hahn gespannt wurde und schrie vor Entsetzen auf. Immanuel drehte sich zu mir um, als sei nichts geschehen, und sagte: »Sieh mal, jetzt werde ich dir sein Kindergesicht zeigen.«
    Ich verstand nicht, was er meinte. Der Henker auch nicht. »Was willst du ihr zeigen?«, fragte er und ließ die Mündung ein wenig sinken, seine kleinen Augen blinzelten verdutzt. »Dein Kindergesicht«, sagte der Prophet euphorisch. »Du musst nämlich wissen, dass jeder Mensch, wie alt er auch ist, noch immer das Gesicht in sich trägt, mit dem er auf die Welt gekommen ist. Aber es ist sehr schwer, dieses Gesicht zu sehen. Wie soll ich ’s dir erklären? Also, stell dir vor, es begegnen sich ganz zufällig zwei Schulkameraden, die sich seit dreißig oder vierzig Jahren nicht gesehen haben. Sie schauen sich an – und erkennen einander und nennen sich sofort mit den lustigen Spitznamen von früher. Ihre alten Gesichter werden für einen Moment zu denen, die sie vor vielen Jahren waren. Das Kindergesicht ist das wahrhaftigste Gesicht. Es ist immer da, es kann nirgendwohin entfliehen, nur verbirgt es sich mit den Jahren unter den Falten und Runzeln und Bärten . . .«
    »Sehr interessant«, besann sich der Mörder und fiel Immanuel ins Wort. »Ein andermal würde ich gern mit dir darüber plaudern. Aber jetzt – dreh dich um.«
    Plötzlich begriff ich, dass in diesem schrecklichen Menschen etwas vorging. Er konnte den Propheten nicht erschießen, wenn er ihm in die Augen schaute. In
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