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Nie Wirst Du Entkommen

Nie Wirst Du Entkommen

Titel: Nie Wirst Du Entkommen
Autoren: Karen Rose
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um den großen Tisch versammeln, dort im alten Haus ihrer Familie im Süden Philadelphias. Es würde laut und turbulent und wundervoll sein, und alle Stühle – bis auf ihren – wären besetzt. In der alten Tradition, den Toten zu gedenken, würde ihr Platz leer bleiben. Denn in den Augen ihres Vaters war sie tot.
    An den meisten Tagen konnte sie den Schmerz darüber in Schach halten. Heute aber war es schlimmer denn je, vielleicht weil sie sich die halbe Nacht gewahr gewesen war, wie einsam Cynthia Adams gelebt hatte. Sie hatte keine Familie gehabt, niemanden, dem sie wichtig war. Niemanden, der sie jetzt vermissen konnte. Und es hatte Tess daran erinnert, dass sie auch keine Familie hatte … mit Ausnahme ihres Bruders Vito, der sich gegen ihren Vater aufgelehnt hatte. Aber Vito war so weit weg. In Philadelphia. Und darüber hinaus war, genau wie bei Cynthia, niemand da, dem sie wichtig war, denn Phillip, zur Hölle mit ihm, hatte es vorgezogen, zweigleisig zu fahren.
    Aber sie hatte Freunde. Sie riss den Blick von ihrem Spiegelbild los und betrachtete das letzte Gruppenfoto, das im Lemon entstanden war. Amy und Jon und Robin. Jim, der vor kurzem nach Afrika entschwunden war, um sich dort zu engagieren. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie sein Gesicht musterte. Hoffentlich ging alles gut, und er kam irgendwann gesund und munter wieder. Dann Gen und Rhonda und all die anderen, die wahrscheinlich bereits im Lemon warteten und sich fragten, wo sie wohl bliebe.
    Sie rückte das Foto an der Wand gerade und wandte sich wieder dem Spiegel zu, um ihre Lippen nachzuziehen. Das Rot passte zur Jacke und rundete ihre Erscheinung ab, die hoffentlich den einen oder anderen Blick auf sich ziehen würde. Und vielleicht den einen oder anderen interessanten Mann aus der Versenkung holen würde. Ihr Liebesleben konnte ein wenig Auffrischung gebrauchen. Verdammt, ihr Liebesleben konnte eine echte Bluttransfusion gebrauchen! Oder vielleicht gleich ein Medium, denn im Grunde war es verstorben. Das war auch etwas, das Jon dauernd anmahnte. Sie war wirklich dankbar für ihre Freunde. Aber manchmal wünschte sie sich, sie würden einfach die Klappe halten.
    Sie ging am Fahrstuhl vorbei und trabte wie üblich die zehn Stockwerke hinunter, bis sie in der Eingangshalle ankam, wo Mr. Hughes wie immer am Empfang Wache stand. »Morgen, Dr. Chick.«
    Tess lächelte den Mann an. »Guten Morgen, Mr. Hughes. Wie geht’s?«
    Der alte Mann gluckste vergnügt. »Keine Klagen. Oder vielleicht doch, aber Ethel sagt, die will sowieso keiner hören.« Doch dann verengte Mr. Hughes die Augen. »Sie sehen aber gar nicht gut aus, Dr. Chick. Sind Sie wieder krank?«
    Sie schlang sich den Riemen der Tasche um die Schulter. Cynthia Adams’ Akte wog schwer. »Nur müde.«
    »Riggin hat gesagt, Sie sind gestern spät wiedergekommen. Und hätten geweint.«
    Riggin war der Nachtportier. Dass die beiden über sie sprachen, ärgerte sie. Wann sie kam und wie sie ankam, ging niemanden etwas an. Aber natürlich hatte Sicherheit im Haus einen Preis, und der hieß Privatsphäre. Das wusste sie. Mit ihrem Seufzer verflog der Ärger.
    »Mr. Hughes, es geht mir gut. Könnten Sie mir ein Taxi rufen? Ich bin ziemlich spät dran.« Ein Taxi brauchte nicht lange herumzufahren, um in der Nähe des Lemon einen Parkplatz zu finden.
    Mr. Hughes betrachtete sie noch immer besorgt. »Wo wollen Sie denn hin, Miss Chick? Ach ja, Moment. Zweiter Sonntag im Monat, also Brunch im Blue Lemon.«
    Sie zog die Brauen zusammen, als sie durch die Tür ging, die er ihr öffnete. »Meine Güte, ist mein Leben so vorhersagbar?« Es hatte eine Zeit gegeben, als das nicht der Fall gewesen war.
    »Ich kann meine Uhr nach Ihnen stellen«, gab Hughes fröhlich zurück, als er nach einem Taxi winkte. »Das Blue Lemon am zweiten Sonntag, montags Krankenhaus, Dinner mit dem Doktor am Mitt …« Er unterbrach sich hastig und sah sie schuldbewusst an. »Tut mir leid.«
    Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Schon gut, Mr. Hughes.« Ihre Mittwochstreffen mit dem Doktor waren Vergangenheit. Weil der Doktor selbst Vergangenheit war. Dass der Gedanke an Phillip noch immer weh tun konnte, machte sie wütend, aber sie unterdrückte ihre Gefühle, als das Taxi am Straßenrand hielt. Weder Schmerz noch Wut waren gesund. Weder Schmerz noch Wut änderten die Vergangenheit.
    »Sie brauchen kein Taxi«, sagte eine harte Stimme hinter ihr, und Tess fuhr herum und starrte in dieselben kalten, blauen Augen,
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