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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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Malereien und Skulpturen. Wenn Paul die berühmten Dinge lange und genau genug betrachtete, wurden sie wie andere, gewöhnliche und liebenswert.
    Manchmal wandten sich die Bilder von ihm ab, sie hatten genug. Dann war es auch höchste Zeit, sich nach den Besuchern umzuschauen. Im Nebenraum stand ein Mann, der offenbar etwas verloren hatte. Er drehte den gesenkten Kopf hin und her, liess sich auf die Knie nieder und beschattete dabei einen Teil der Fläche, die als Fundort in Frage kam. Was Paul dann am Boden blinken sah, war eine Kontrollmarke des Museums. Er hob sie auf und reichte sie dem Mann, der, immer noch auf allen Vieren, hoch schaute und dabei mit dem Kopf den Rahmen von Hamiltons „Interior“ streifte. Paul half dem durch das ausgelöste
Warnsignal zusätzlich Verstörten auf die Beine.
    Das Gehäuse des Museums war eine Ansammlung verschiedener Bühnen, auf denen Menschen ihre kleinen Auftritte gaben. Die Szenen hätten sich überall zutragen können, kamen aber erst vor den Bildern zu ihrer vollen Bedeutung. Weil sie sich hier leiser vollzogen, langsamer auch als anderswo, schien plötzlich Schicksalhaftes erkennbar zu werden.
    Paul sah einen Mann mit Audioguide vor Monets „Seerosenteich mit Iris“. Der Mann stand gedankenvoll oder gedankenverloren da. Dann, unvermittelt, blickte er sich nach jemandem um, wohl nach einer Person, die ihn eben noch begleitet hatte. Paul, von einem plötzlichen Mitgefühl bewegt, sagte im Vorübergehen halblaut: Sie kommt gleich zurück. Der Mann verstand ihn nicht. Er nahm das Gerät vom Ohr, drückte die Pausentaste. Doch nun kam aus dem Nebenraum eine Frau dazu, offensichtlich die vermisste. Das Gesicht das Mannes fragte: Wo um Himmelswillen bist du so lange gewesen? Sie, die der Mann ebenso gut für immer hätte verlieren können, hängte sich bei ihm ein und betrachtete nun ihm zuliebe ihrerseits den See­rosenteich, den der Mann inzwischen aus den Augen verloren hatte.
    Eine Frau rief nach ihrem Kind: Sofie! Das Mädchen, hinter dem Sockel einer Figur versteckt, bedeutete Paul zu schweigen. Die Mutter war verzweifelt, das Mädchen vergnügt. Paul holte das Kind, das nun entrüstet und widerspenstig an seiner Hand ging, und brachte es der Mutter. Die Frau dankte ihm so überschwänglich, als hätte er ihr Kind aus einem brennenden Haus gerettet.
    Das Schicksalhafte, dachte Paul, doch er kam nicht über das grosse Wort hinaus, da eine Kollegin, Patrizia, ihn am Oberarm packte. Sie trug ein dunkel­blaues Kleid mit einer schweren, goldenen Brosche, die wie welk am dünnen Stoff hing.
    Du jagst in meinem Revier, flüsterte sie.
    Tatsächlich war seine Zeit in diesem Sektor längst um und der Wechsel zu Sektor 11 fällig geworden.
    Ein alter Mann, blind, ging hier am Arm einer alten Frau von Bild zu Bild. Die Frau beschrieb, was sie vor sich hatten. Der Mann lächelte: Freude des Wieder­erkennens. Vermutlich war er erst im Alter blind geworden und schaute nun mit den Augen der Erinnerung, die ihm Unvergleichliches zu zeigen schienen. Kein Sehender lächelte so anhaltend einem Bild entgegen.

P aul nahm einen seiner bevorzugten Wege, der leicht ansteigend einen trockenen Abhang durchzog. Der magere Grund genügte fast nur noch den Föhren. Auf der Anhöhe kamen wilde Kirschen und Eichen dazu, dann vor allem Buchen. Paul ging in der Dämmerung des dichten Laubschirms. Es war sehr still hier. Die Vogelstimmen machten Pause. Ein Warnruf dann und wann. Paul dachte das Wort „hochsommerlich“.
    Er traf auf eine Waldschneise, einen offensichtlich frisch angelegten Forstweg, der in die blossgelegten Eingeweide des Waldes vordrang. Das geschlagene Holz lag noch verstreut zwischen den Bäumen. Die Schneise endete wie abgerissen. Paul stapfte weiter durch Sägemehl und flachgetretene Brombeersträucher. Über ein lehmiges Bord stieg oder rutschte er schliesslich auf einen Pfad hinab, den er eigentlich hätte kennen sollen. Nach einer Biegung um einen felsigen, moosigen Höcker kam er über blossliegende Wurzeln auf einen Holzsteg zu, der mit frischen Bohlen ausgebessert war. Paul beugte sich über die Brüstung. Der Bach lief über einen hellen Grund. Sein Lauf war gezähmt mit Natursteinmauern, über die er in eine Wanne fiel. Unten quoll er auf, breitete sich für Augenblicke seelenruhig aus, bevor er, zu Strähnen versammelt, auf eine Rinne
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