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Nachtwandler (German Edition)

Nachtwandler (German Edition)

Titel: Nachtwandler (German Edition)
Autoren: Jule Becker
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Klinge routiniert am Hals an. Die Rasur geht ebenso schnell, aber gründlich vonstatten wie zuvor schon die Dusche. Ich wische die Schaumreste weg und überprüfe das Resultat. Ich bin zufrieden. An Oberlippe und Kinn stehen noch Barthaare. Es hat Ähnlichkeit mit einem Piratenbärtchen – ein bisschen wie bei Orlando Bloom in ‚Fluch der Karibik‘. Mein schwarzes Haar reicht mir fast bis zu den Schultern. Nachdem ich es trocken geföhnt habe, nehme ich das obere Deckhaar und binde es mit einem Haargummi am Hinterkopf zusammen. Noch ein paar Tropfen eines edlen Aftershaves und ein letzter prüfender Blick, dann verlasse ich das Bad und betrete das Schlafzimmer. Von dort aus führt ein Durchgang in einen geräumigen, begehbaren Kleiderschrank. Den Kleidungsstücken auf der rechten Seite schenke ich keinerlei Beachtung. Zielstrebig greife ich auf der linken Seite nach einer engen Bluejeans, einem schwarzen Hemd mit kurzen Ärmeln und einem Paar dunklen Socken. Unterwäsche trage ich, zumindest in dieser Gestalt, nicht.
    Rasch schlüpfe ich in die Kleidung, steige in meine Schuhe, stecke ein paar Geldscheine sowie zwei Kondome in die vordere und mein Handy in die hintere Hosentasche, greife nach dem Schlüssel und verlasse die Penthouse-Wohnung. Genauso wie gestern und vorgestern und die Tage davor. Genauso wie jeden einzelnen Tag in den vergangenen gut fünf Jahren. Das ist mein Leben - und ich liebe es. Zumindest den Teil, der sich zwischen Sonnenuntergang und -aufgang abspielt.

Jagdrevier

    Zufrieden blicke ich hinab auf die Tanzfläche. Die Unterarme habe ich auf das kühle Metallgeländer vor mir gestützt. Der Bass hinterlässt ein angenehmes Vibrieren in meinem Bauch und ich schließe genüsslich die Augen. Die Empore, auf der ich stehe, habe ich eigens für mich anfertigen lassen. Der Vorteil daran ist, dass ich hier weitestgehend in Ruhe gelassen werde. Die Beute suche ich mir aus, niemals umgekehrt.
    Es ist noch recht früh, noch nicht einmal ganz 23 Uhr, der Laden platzt dennoch fast aus allen Nähten. Die Männerleiber sind so dicht aneinander gedrängt, dass man von hier oben fast schon den Eindruck gewinnen könnte, die Masse unter mir bestünde aus einem einzigen, riesigen Organismus.
    Ich kann und eigentlich will ich auch gar nicht verhehlen, dass ich verdammt stolz bin, denn bevor ich diesen Laden hier vor etwas mehr als fünf Jahren übernommen habe, war er nichts weiter als eine heruntergekommene Kaschemme, die ihre besten Tage längst hinter sich hatte. Es hat mich zwar eine ganze Stange Kohle gekostet, denn ich habe damals nicht nur das komplette Gebäude gekauft, sondern es auch von Grund auf sanieren lassen, aber letztendlich habe ich keinen einzigen Cent davon bereut. Fairerweise muss ich allerdings gestehen, dass ich ohne die tatkräftige Unterstützung meiner Eltern das Dorian sicher nicht zu dem Szenenclub hätte machen können, der er heute ist. Mein Vater hat mir, ohne mit der Wimper zu zucken, die Mittel vorgestreckt und ich vermute aus einem Impuls schlechten Gewissens heraus, da er an meiner Situation nicht ganz unschuldig ist.
    Wie auch immer, das ganze Gebäude kann sich jedenfalls sehen lassen. Im Erdgeschoss sind der Club selbst und etliche Lagerräume untergebracht, darüber befindet sich eine Sushi Bar auf der einen, und eine Pizzeria auf der anderen Seite. Im zweiten Stock gibt es noch ein paar vermietete Büroräume und ganz oben wohne ich. Manchmal erhält eine meiner Eroberungen das Privileg, mich begleiten, und für einige Stunden mein Gast sein zu dürfen. Allerdings gab es in den vergangenen Wochen niemanden, für den es sich gelohnt hätte, in die Rolle eines aufmerksamen Gastgebers zu schlüpfen.
    Auch die Lage ist perfekt. Das Objekt befindet sich am Rande eines Industriegebiets. Die Einzigen, die sich durch das Dorian gestört fühlen könnten, sind die Mitarbeiter des hiesigen Wach- und Sicherheitsunternehmens, die des Nachts regelmäßig ihre Kreise ziehen. Außer mir wohnen in dieser Gegend nur zwei weitere Unternehmer, die vermutlich, ebenso wie ich, die Bequemlichkeit des Arbeitens und Lebens an einem Ort einer ruhigen Wohnlage vorziehen. Da es hier also keine reinen Wohnhäuser gibt, bleibe ich von intoleranten Homophobikern weitestgehend verschont. Immer mal wieder taucht zwar ein Spinner auf, der meint, dass ein solcher Schandfleck, wie das Dorian gelegentlich betitelt wird, beseitigt gehört. Beschwerden sind bisher jedoch stets im Sande verlaufen. Der Name
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