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Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Autoren: emons Verlag
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Autors zu gewinnen. Wer das Buch bereits kennt, dem soll später die
Möglichkeit gegeben werden, durch Fragen sein Wissen zu vertiefen. Meine Herren,
bitte begrüßen Sie Herrn Dr. Sanftleben!«
    Otto bestieg das
Podium und blickte auf das begeistert applaudierende Publikum. Um seine
Nervosität in den Griff zu bekommen, rief er sich ins Gedächtnis, dass nicht
er, sondern seine fachliche Kompetenz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.
Als Experte sollte er zu einem wissenschaftlich interessierten Publikum
sprechen. Er entnahm seiner Dokumententasche mehrere Bögen Papier und ordnete
sie auf dem Pult. Dann hob er die Hände und dankte für die überaus herzliche
Begrüßung. Nachdem Ruhe eingekehrt war, atmete er tief durch und begann den
Vortrag mit einer Begriffserklärung:
    »Unter der
Verbrecherphänomenologie verstehen wir die Untersuchung kriminalistisch
relevanter Erscheinungen, die uns Aufschluss über seelische Vorgänge des Täters
geben und so die Hintergründe der Tat aufdecken können.
Untersuchungsgegenstände sind unter anderem Körperhaltung, Mimik, Gestik und
Kleidung …«
    Während Otto
fortfuhr, fiel ihm ein älterer Herr in der ersten Reihe auf. Er trug einen
altmodischen Gehrock, dessen grober schwarzer Stoff an die Soutane eines
Dorfpriesters erinnerte. Sein ausrasierter Backenbart war buschig und von
grauen Strähnen durchsetzt. Sein Blick war seltsam starr: leblos und zugleich
von einem inneren Feuer erfüllt. Als das Publikum über einen Zwischenruf
lachte, presste er seine Lippen aufeinander, seine Hände ballten sich zu
Fäusten, und sein Blick schoss wahre Feuerbälle ab.
    Otto konnte sich
nicht erinnern, diesem Mann schon einmal begegnet zu sein. So beschloss er, den
Blickkontakt zu meiden, um sich ganz auf seine Ausführungen konzentrieren zu
können. Buchstaben wurden zu Worten, Worte zu Sätzen und Sätze zu einem
Vortrag. Zu seiner eigenen Verwunderung gewann er schnell an Sicherheit, so als
hätte er seine Vortragstätigkeit nie länger unterbrochen. Die Zeit verstrich
wie im Flug, und ehe es sich Otto versah, machte Kommerzienrat Vitell durch ein
Handzeichen auf sich aufmerksam und schwenkte seine Taschenuhr über dem Kopf.
    Otto nickte ihm zu
und sagte zum Publikum gewandt: »So leid es mir tut – gerade bekomme ich ein
Zeichen, dass eine Stunde schon vorüber ist. Bevor ich zum Ende komme, möchte
ich noch ein paar grundsätzliche Worte sagen. Die Verbrecherphänomenologie soll
keine verbindliche Merkmalslehre aufstellen, die den Anspruch auf Unfehlbarkeit
erhebt. Vielmehr soll sie als Hilfswissenschaft dienen, welche Denkanstöße
geben und Verdachtsmomente modifizieren kann. Nur so gibt sie den ermittelnden
Behörden ein Instrument an die Hand, das zur Überführung von Kriminellen
beitragen kann.« Otto nahm die Papierbögen auf und klopfte sie auf dem Pult
gerade. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
    Das Publikum erhob
sich von den Plätzen und klatschte begeistert Beifall. Einige Herren riefen
sogar: »Bravo« oder »Bravissimo«.
    Otto machte eine
beschwichtigende Geste. »Danke, danke! Das ist zu viel der Ehre«, sagte er
bescheiden, bekam aber vor lauter Stolz rote Flecken im Gesicht. Was kann mir
jetzt noch passieren?, dachte er.
     
    Nach dem Vortrag
erschien das Dienstpersonal, um den Saal für das Festessen vorzubereiten.
Während Stühle zur Seite gestellt und Tische hereingetragen wurden, verteilten
sich die Zuhörer auf das Billardzimmer, die Bibliothek, das Spielzimmer und die
beiden Salons.
    Otto fand sich im
Lesezimmer wieder, wo er sich sogleich von zahlreichen Clubmitgliedern umringt
sah. Im Überschwang der Gefühle griff er nach einem Glas Clicquot und stürzte
den Champagner in einem Zug hinunter. Das hat gutgetan, dachte er sich, stellte
das leere Glas auf ein Tablett und nahm sogleich das nächste. Während er dieses
Mal genussvoll trank, beantwortete er die Fragen, die nun von allen Seiten auf
ihn einprasselten.
    Aus dem
Augenwinkel sah er, wie Kommerzienrat Vitell in die Tür trat, sich suchend nach
ihm umschaute und sich auf seinen langen Säbelbeinen näherte. »Das haben Sie
famos hingekriegt«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie den schroffen Empfang
von vorhin. Wir haben heute wichtige Gäste, und ich wollte sie nur ungern noch
länger warten lassen.«
    »Herr Kommerzienrat«,
erwiderte Otto. »Ich bitte Sie. Sie hatten ja vollkommen recht. Ich war
wirklich zu spät. Meine Uhr ist offensichtlich stehen geblieben. Das tut
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