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Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter

Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter

Titel: Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
Autoren: Karin Jaeckel
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Boris tat mir so Leid. Wie grauenvoll musste Georgs Anblick im Sturz und später unter der Brücke für ihn gewesen sein! Nein, ich konnte ihm die Wahrheit nicht sagen.
    »Vertragt euch, vertragt euch«, schien Georgs Stimme mir zuzuwispern.
    Da musste ich Boris schonen. Er sollte glauben, Georg habe sich durch seinen Freitod nur an seinem Vater rächen wollen.
    Wie ein kleines Kind schlief Boris in meinen Armen ein.

XXX
    Am Morgen nach Georgs Tod reisten wir in die Eifel. Bis zum Tage seiner Beerdigung wohnten wir in der Protzvilla, tummelten uns auf den hauseigenen Pferden, wanderten. Boris, Elvira und ich tollten lachend herum, kein Graben war zu breit, kein Hang zu steil.
    Urlaub ohne Georg. Er war nicht tot, nur fort, zur Kur. Urlaub als Flucht. Für mich nur Flucht vor der Wirklichkeit; für Boris Flucht vor der Erinnerung, die ihm in Albträumen auf den Fersen war, aus denen er laut »Aua!« schreiend erwachte, um sich in meinen Armen zu verstecken. Er schlief bei mir in diesen Tagen. Mein Vater hatte es ihm großzügig gewährt, nachdem Boris in einem Ton, der ihn aufhorchen und nachgeben ließ, darum gebeten hatte.
    Vielleicht gab es deshalb keinen Töchtertausch mehr?
    Je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher erkenne ich, dass vor allem mein Vater in diesen Urlaub geflohen war. Er hatte Angst. Die Polizei schnüffelte in seinem Privatleben herum. Georgs Tod hatte Fragen der Sicherheit am Bau aufgeworfen – einem Bau, den mein Vater als Stadtratsmitglied mitgeplant und mitzuverantworten hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte sich eingeschaltet. Es sollte zu einem Verfahren kommen, das später allerdings eingestellt wurde, weil der für die Bausicherheit Verantwortliche der Baufirma gekündigt hatte.
    Auf jeden Fall muss mein Vater panische Angst gehabt haben. Was würde die Polizei herausfinden? Konnte man trotz der zerschmetterten Glieder erkennen, wie übel Georg kurz vor seinem Tod zugerichtet worden war? Wenn ja, würde man Verdacht schöpfen? Flog jetzt alles auf?
    Ich weiß nicht, ob die Flucht in die Eifel meinen Vater tatsächlich schützte. Jedenfalls ließ die Polizei uns unbehelligt. Kein Verhör, das meine Eltern in irgendeine Zwickmühle gebracht hätte, keine Wohnungsdurchsuchung, keine Entdeckung der Pornos, kein Verdacht.
    Heimkehr zur Beerdigung. Der Sarg unter all den Blumen.
    »Georg! Wenn Gott Tote erwecken kann, warum erweckt er dich nicht?« Immer wieder gingen mir solche Gedanken durch den Kopf.
    Oma Grete am offenen Grab, weinend. »Warum er, warum nicht ich?«
    Boris und Stefan, Schulter an Schulter, halbe Brüder nur. Ich wusste es noch nicht lange. Erst ein paar Wochen zuvor hatte ich in irgendeiner Schublade unseren Familienpass aufgestöbert und mich als erstes Kind darin eingetragen gefunden. Stefan war nur das Kind meiner Mutter. Plötzlich erhielt etwas bisher Unverständliches einen Sinn. »Er ist trotzdem mein Bruder«, hatte Georg gesagt. »Er gehört trotzdem zu uns.«
    Ich starrte meinen Vater an. Er stützte seine leidgeprüfte, vor Kummer gebrochene Frau. Sein Gesicht war verzerrt. Tropfen liefen aus seinen Augen. Tränen? Mein Vater weinte?
    Vor Entsetzen erstarb mein eigenes Weinen. Mein Vater, der jedes seiner Kinder hemmungslos verprügelt hatte, wenn es einmal zu weinen wagte, der sich zur Strafe für meine Tränen vergaß und auch dann mit mir schlief, wenn ich meine Tage nicht hatte, dieser Mann weinte. Warum tat die Erde sich nicht auf? Warum blieb die Sonne am Himmel?
    Fühlte Papa meinen Blick? Starrte er deshalb plötzlich zurück? Als hätte ich ihm einen Schlag versetzt, wischte er sein Gesicht ab. Ich konnte von seinen Lippen ablesen, was er zu sich selbst sagte: »Schluss jetzt, Manfred, reiß dich zusammen. Das Leben geht weiter.«
    Sein Gesicht war trocken, streng, gefasst, als er das Taschentuch wegsteckte.
    Meine Tränen versiegten nicht so schnell. Ich glaubte, nie mehr mit Weinen aufhören zu können. Dies war wieder der Vater, den ich kannte. The show must go on – nach der Beerdigung würde er kommen und sein Ding in mich stecken. Zum Trost für sich, zur Strafe für mich.
    Mich schauderte. »Georg, bist du dafür gestorben?«
    »Erde zu Erde.« Nein, ich konnte keine Erde auf Georg werfen. Meine Erde sollte nicht auf ihn drücken. Ich konnte auch keine Blumen in die Erde seines Grabhügels pflanzen, später, als die Kränze und Sträuße verwelkt waren und meine Mutter das Totenlicht verlöschen ließ, um mich zu strafen.
    Doch die
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