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Mira und der weiße Drache (German Edition)

Mira und der weiße Drache (German Edition)

Titel: Mira und der weiße Drache (German Edition)
Autoren: Margit Ruile
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Herbstsonne durch die kahlen Bäume und Mira hatte ihre Schuhe ausgezogen und die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz gelegt. Sie schloss die Augen und genoss das rote Sonnenlicht auf ihren Augenlidern.
    In den letzten Tagen, die Mira in Schwarzburg verbracht hatte, waren ihr weder Hexen noch Zauberer noch sonst etwas Ungewöhnliches begegnet. Sie hatte Gullivers Reisen zu Ende gelesen und das Buch Herrn Sperling zurückgebracht, der glücklicherweise das Buch der Metamorphosen nicht zu vermissen schien. Dann hatte sie versucht, so gut es eben ging Frau Fingerhut zu trösten, der mit Maunzi nun schon die zweite Katze in dieser Woche abhandengekommen war.
    Und zu Miras großer Erleichterung hatte Tante Lisbeth nie wieder vorgeschlagen, »Mensch ärgere Dich nicht« zu spielen, und die hässlichen steifen Puppen aus Miras Zimmer im Schrank gelassen.
    Draußen zog die Herbstlandschaft vorbei. Ein paar Reisende drängten sich in dem engen Gang an Miras Abteil vorbei, ohne sich zu ihr zu gesellen. Sie dachte an Miranda und die Hexe Fa, an den weißen Drachen, an den treulosen Hippolyt, die böse schwarze Hexe und an all die anderen Zauberer und Wesen, die ihr in dieser seltsamen Woche begegnet waren.
    Und während sie noch über all die Dinge grübelte, die ihr widerfahren waren, holte sie aus ihrer Jeanstasche die silberne Dose, die Miranda ihr geschenkt hatte. Eine zierliche Amsel war auf der Oberseite eingraviert. Mira drehte die Dose, doch nach längerer Überlegung beschloss sie, den Deckel doch nicht abzunehmen. Sie dachte mit Schaudern daran, wie Miranda bei ihrer ersten Begegnung einen gebratenen Regenwurm aus der Dose gezogen hatte. Auch wenn sie sich verwandeln konnte − die Vorliebe der Zauberer für eigenartige Speisen hatte sie noch nicht angenommen.
    Als sie die kleine silberne Dose in ihre Hosentasche zurücksteckte, spürte sie dort ein Stück Papier. Verdutzt zog sie es heraus und legte es auf das ausklappbare Tischchen unter dem Zugfenster.
    Es war eine Karte, grau und labbrig. Doch von dem verwitterten Karton leuchtete Mira ein wohlbekannter schön geschwungener Schriftzug entgegen:
Lies mich!
Mira stieß einen leisen Pfiff aus. Das war die Karte des Silbermännchens. Es musste das letzte und einzige Exemplar sein, das Mira bei der schwarzen Hexe gefunden hatte! »Und ich habe die Karte ganz vergessen!«, dachte sie schuldbewusst. Sie stand auf und zog sicherheitshalber die braunen Vorhänge vor der Abteiltür zu. Dann setzte sie sich zurück auf ihren Sitz und drehte die kleine Karte in ihren Händen. Sie war zusammen mit ihrer Jeans in Tante Lisbeths Waschmaschine gelandet und deshalb nun nicht mehr silbern, sondern glich eher einem rechteckigen, schmutzig grauen Stofflappen. Hoffentlich funktionierte der Zauber trotzdem noch! Nun, sie musste es auf alle Fälle versuchen. Vorsichtig legte Mira die Karte auf den schmalen Klapptisch vor ihr.
    »Lies mich!«, flüsterte Mira nervös und blies auf das Papier. Sie wartete eine Weile, doch nichts geschah. Miras Herz klopfte.
    Sie nahm all ihren Mut zusammen und flüsterte ein weiteres Mal: »Lies mich!« Dann holte sie tief Luft und blies so fest auf die Karte, dass sie sie fast von dem kleinen Tischchen geweht hätte. Wieder geschah nichts und Mira befürchtete schon das Schlimmste. Doch dann glühte der geschwungene Schriftzug blau auf und verblasste einen kurzen Augenblick später. Dort, wo vorher noch die leuchtenden Buchstaben gewesen waren, entstieg der verblichenen Karte das Silbermännchen. Sein vorher tadellos sitzender Anzug war zerknittert, und es setzte seinen Hut ab, um ihn auszubeulen. Dabei sah es sich etwas verwirrt in dem Abteil um. Dann betrachtete es die Karte unter sich und blickte schließlich vorwurfsvoll zu Mira.
    »In Anbetracht dessen, dass es wahrscheinlich das letzte Exemplar ist, hättest du die Karte ruhig etwas besser behandeln können!«, sagte es. »Äh, Entschuldigung«, murmelte Mira. »Ich hatte ganz vergessen, dass ich die Karte noch eingesteckt hatte.«
    Sie räusperte sich. »Und meine Tante hat sie dann leider in der Waschmaschine mitgewaschen.«
    »So!«, sagte der kleine Silbermann und blickte Mira verärgert an. »Gewaschen!« Der Zug ratterte und der Silbermann zitterte ein wenig unter der Bewegung. Mira biss sich auf die Lippe. Eigentlich könnte der kleine Kerl ruhig etwas freundlicher zu ihr sein. Immerhin hatte sie ihm das Leben gerettet. »Sie können froh sein, dass ich diese Karte noch gefunden habe«,
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