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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Autoren: Christian Thielemann
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ist Teil der unsichtbaren Vorgeschichte; und Titurel stirbt, aus Altersschwäche und weil der Gral den Rittern keine Kraft mehr spendet. Ob Klingsor dagegen am Ende des zweiten Aktes untergeht, dürfte angesichts seiner Zauberkräfte zweifelhaft sein. Und Kundry? Ist zur ewigen Wiedergeburt verurteilt, da sie einst Christus am Kreuz verlachte, nur hin und wieder fällt sie in einen todesähnlichen Schlaf. Durch die Taufe werden Schuld und Fluch von ihr genommen, sie darf also sterben. Aber stirbt sie auch? Wagner lässt das offen, in seinen letzten Takten oszillieren die Motive von Verheißung, Liebesmahl, Glauben und Gral, als gäbe es für alle nichts Erstrebenswerteres als solche Transzendenz.
    Die Utopie eines gemeinschaftlichen Miteinanders im Glauben (an die Kunst, nicht an Gott) hat freilich einen Haken, und Wagner wäre der letzte, diesen zu leugnen: Sie bleibt unfruchtbar. Wo Männer ins Kloster gehen und Frauen verschwinden, wo Empathie eine Frage des Zölibats ist und Erotik eine der Angst, wo der Entsagende über den Begehrenden und Liebenden triumphiert, wo die Kunst nur mehr sich selbst im Sinn hat – da hat das Musikdrama keine große Zukunft. Verpasst Wagner seinem «Parsifal» deshalb einen so überirdisch schönen Schluss? Ist das «Bühnenweihfestspiel» nicht nur ein Anti-«Tristan», sondern überhaupt eine Anti-Oper? Ich denke, das Christliche wie das Psychologische wie überhaupt das Außermusikalische sollten im «Parsifal» eher den Hintergrund bilden – und wir tun einmal mehr gut daran, nichts überzuinterpretieren. Wagners Ja zum Leben ist ein Ja zur Kunst. Radikal und ausschließlich. Die Kunst darf nicht sterben, sagt der «Parsifal» und denkt das Ende der repräsentativen Großform Oper doch in gewisser Weise mit. Ihr «weiht» Wagner mit 69 Jahren sein letztes Werk, seine «letzte Karte».
    Musik
    Der «Parsifal» beginnt mit einer Pause. 4 / 4 -Takt, Streicher und Holzbläser, sehr langsam, sehr ausdrucksvoll, «die Sechzehntel immer ruhig und getragen», so Wagners zusätzliche Anweisung. Doch als erstes: die berühmte Viertelpause, komponierte Stille. Alles ist dunkel, nur der Raum spricht, rauscht, raunt. Dann geht es los. Welch schräges Timbre, Englischhorn mit Klarinette, Oboe mit Bratschen und halben zweiten Geigen, krude Farben, viele Arpeggien in den Streichern, piano, più piano, pianissimo, più piano , als blendete sich das Geschehen ein und wieder aus, als richtete sich im Graben ein Scheinwerferkegel bald hierhin, bald dorthin. Und am Ende des Vorspiels nimmt Wagner die Farben regelrecht auseinander, löst sie in ihre Pigmente auf, Klarinette solo, Oboe solo, Flöte solo, ein glasklares Spektrum, in dem sich das Licht bricht.
    Um ein «Weltabschiedswerk» geht es Wagner nach dem «Ring», ein opus ultimum , das alles bündelt und doch eine Ausnahmestellung einnimmt. Man muss tief Luft holen, wenn man alle Assoziationen nennen möchte, die der «Parsifal» weckt. Da sind die kontrastierenden Welten, die spärliche äußere Handlung, die alles überwölbende Erlösungsthematik und ein Held, der nicht gerade durch Taten zum Helden wird. Das alles kommt dem Wagner-Freund bekannt vor. Es sind sozusagen die eigenen Voraussetzungen, derer sich das Werk noch einmal vergewissert – um dann eine gänzlich andere Richtung einzuschlagen. Der Schritt vom «Bühnenfestspiel» zum «Bühnenweihfestspiel» ist nicht nur der von der Kunst zur (Kunst-)Religion, vom Profanen ins Sakrale, sondern auch ein Stück Rückbesinnung. Als legte Wagner sich bei sich selbst auf die Couch, als wollte er seinen schöpferischen Urgrund durchleuchten und von innen heraus zu ganz neuen Ufern aufbrechen.

    Die erste Seite des «Parsifal», oben rechts Wagners handschriftliche Datierung: «23. Aug. 1879»
    Aufschlussreicher als die Frage der potenziellen Gemeinsamkeiten ist demnach die nach den Unterschieden: Was macht Wagner im «Parsifal» anders? Simple Antwort: wieder einmal alles. Der Bestand der Leitmotive ist radikal reduziert – und ihre Verwendung radikal verfeinert. Böse Zungen behaupten, Wagner hätte den «Parsifal» mit zwei Themen bestritten, was blanker Unsinn ist. Wobei: Auch aus zwei Themen lässt sich eine fünfstündige Oper schreiben, wenn man das Prinzip der motivischen Verwandlung und Anverwandlung so verinnerlicht hat wie Wagner. Kein einziges Leitmotiv taucht zweimal in der gleichen Gestalt auf, alles verändert sich immerzu, wie in einer unendlichen Metamorphose. «Du
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