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Malefizkrott

Malefizkrott

Titel: Malefizkrott
Autoren: Christine Lehmann
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stippte die Zigarette im Aschenbecher aus.
    Ich legte meine längst ausgekühlte Kippe dazu. »Und dann?«
    »Immerhin nahm Marie mich jetzt wahr.« Er schaute auf die Uhr. »Ich glaube, wir sollten …«
    »Und das Buch? Hast du sie gefragt …«
    »Ehrlich gesagt, das Buch interessierte mich nur noch am Rande. Marie und meine vergeblichen Gefühle für sie nahmen mich voll in Anspruch.«
    »Was ist aus ihr geworden?«
    Richard zuckte mit den Achseln.
    »Und aus Wolfi?«
    Seine Antwort kam zögernd. »Ich habe mir später die RAF-Fahndungsplakate, die in Postämtern und öffentlichen Gebäuden hingen, stets angeschaut, ob ich Wolfi erkenne, aber … nein.«
    »He! Willst du mich verarschen?« Ich gab ihm einen Stoß vor die Brust. Er stolperte rückwärts gegen den Tisch. Ich packte ihn vorsichtshalber am Revers seines maßgeschneiderten Anzugs, was unnötig war, mir aber gut gefiel.
    Er umfasste mein Handgelenk. »Lisa, bitte!« Er hätte mir problemlos Sehnen und Knochen zerquetschen können, aber er war ein der Gewalt grundsätzlich abgeneigter Mann. »Nicht jetzt!«
    Zwei Frauen hatten sich genähert, klappten die Schirme zusammen und schauten uns erschrocken an.
    Ich ließ Richard los. »Aaaabend!«
    »Guten Abend!«, kam es doppelt indigniert zurück.
    Richard hielt ihnen die Tür auf.
    Auf dem Weg durch den Laden zur Treppe zog ich hinter seinem Rücken das Büchlein aus dem Stapel, in das er es vorhin geschoben hatte. Mein Mittelfinger ertastete nebenbei auf der Rückseite ein Loch, aber jetzt war nicht die Zeit, es mir anzuschauen. Ich steckte das Unikat in die Innentasche meiner Bikerjacke. Daher der Name Taschenbuch.

 
     
4
     
    Es waren nicht viele, die zwei Minuten vor acht aufrecht auf den Stühlen saßen. Fünfzehn Hanseln vielleicht, davon einer der Vater und der andere der Verleger. Die vordere Reihe war frei geblieben. Richard und ich hatten uns in die Mitte gesetzt. Ganz hinten saß ein Weißhaariger, der Bücher aus dem Regal holte und darin blätterte, bis seine Frau ihn anrunkste. Dann hätte Vater Schrader beinahe den Beginn verpasst. Mit der Hand am Hosenstall kam er die Treppe herabgefußelt. Schwache Blase. Der Vater war eindeutig uncooler als die Tochter.
    Lola Schrader setzte sich hinter einen Tisch mit Lämpchen und Wasserglas. Den Haarvorhang hatte sie noch halb zugezogen. Ihr rot geschminkter Mund konnte nicht stillhalten und erzeugte Grübchen in den Backen. Sie schluckte. Auf einmal grinsten wir uns an. Es war nicht ihre erste Lesung, aber die erste, bei der sie selbst hinter dem Tisch mit dem Wasserglas saß. Bisher hatte sie Autoren, die dort saßen, für berühmte Persönlichkeiten gehalten. Nun erkannte sie, dass es eine Lüge war.
    Für mich war es auch nicht die erste Lesung, bei der ich im Publikum gesessen hatte, immer im Auftrag einer Zeitung. An Christa Wolf noch vor der Wende bei Witt wer erinnerte ich mich, dem damals einzigen Buchkaufhaus von Stuttgart, eine Betonsünde am Schlossplatz, von der inzwischen ein gläserner Museumswürfel ablenkt. Die Amazone hatte mich geschickt, weil ich Wolfs Selbstver such gelesen hatte. Marie – wir hatten auch eine schönekluge Marie gehabt, die später ihren eigenen Krieg führte {4} – hatte mich mit dem germanistischen Vokabular gefüttert. Auf meinem Zettel stand: »Das Identitätspara digma der klassischen Novelle, vom Scheitern her erzählt. Anspruch der Frauen, von Männern, die sie lieben, als Individuum erkannt zu werden. Männer sind unfähig zu dieser Art von Liebe.« Weshalb die weibliche Versuchsperson das Projekt des Geschlechtertauschs abbricht, entsetzt über den Verlust der Fähigkeit zu lieben. »Patriarchale Dichotomie, in Klammern Zweiteilung, die den Mann als eigentlichen Menschen sieht und die Frau als das andere Geschlecht«, hatte ich mir notiert. »Erst aus der Differenz der Geschlechter entsteht Individualität.«
    Was ’n Schafscheiß!
    Damals hatte ich erwogen, es für wahr zu halten und die Abwesenheit meiner Individualität meiner unterentwickelten Geschlechtsidentität zuzuschreiben und für therapiebedürftig zu halten. Ich weiß nicht mehr, was ich die berühmte Autorin fragte, als wir endlich fragen durf ten. Aber ich erinnere mich, dass sie mich kaum anschaute und ins Publikum sagte: »Lesen Sie meine Bücher, da finden Sie die Antwort.«
    Seitdem wusste ich: Autoren sind immer dümmer als ihre Bücher. Zumindest, wenn sie reden sollen, weshalb sie lieber schreiben. Da bläst ihnen keiner seinen
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