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Luegenherz

Luegenherz

Titel: Luegenherz
Autoren: Beatrix Gurian
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Leben sein sollte. Scheiß auf diese Ausstellung! Ist doch egal, ob ich ein Epigone bin oder nicht.
    Ich streiche Mila ein paar Haare von der klebrigen Wange, halte mit der anderen ihre zuckende Schulter fest und drücke sie dann trotz ihres verklebten Gesichts an mich. Obwohl sie weiterweint, merke ich, wie gut sie riecht, nach Gummibärchen, Waschmittel und Meer. Ich kann sogar noch darüber nachdenken, woher diese besondere Mischung wohl kommt, während ich wie ein Volltrottel »Schschsch« und »Alles wird gut« in ihre Haare murmle. Als ob ich eine Ahnung vom Leben hätte – ausgerechnet ich, die noch nicht mal einen Freund hatte!
    Nachdem sich ihr Körper wieder beruhigt hat, lasse ich sie langsam los, fast schon ein bisschen bedauernd – ich mag diesen angenehmen Duft, der ihrer Haut entströmt. Dann hole ich den Mülleimer, entsorge die vielen Taschentücher und hoffe, sie bemerkt es in ihrem Kummer nicht.
    »Tut mir leid, dass ich hier so rumrotze«, sagt sie leider doch und endlich hat sie wieder eine, wenn auch leise, Stimme.
    Ich werde knallrot. Was für ein Mensch bin ich eigentlich? Wieso kann ich diesen Bazillenwahn nicht mal eine Sekunde abstellen? Noch nicht mal dann, wenn es Mila schlecht geht?
    »Hey, das macht doch nichts«, beeile ich mich zu sagen. »Willst du mit mir darüber reden?«, frage ich und habe Angst, sie könnte Nein sagen und gleichzeitig habe ich Angst, sie könnte Ja sagen und ich würde damit nicht klarkommen. Alleine sein ist irgendwie einfacher.
    Mila schüttelt vehement den Kopf. Also nein? Doch dann sucht sie meine Augen und der Blick aus ihren dunkelgraublauen Augen ist so flehentlich, dass sogar mir klar wird, sie will, dass ich ihr alles aus der Nase ziehe.
    »Es geht also irgendwie um den Landgraf, ja?«, fange ich an und hoffe, dass ich alles richtig mache.
    Mila nickt, putzt sich noch einmal die Nase und wischt sich mit dem Handrücken über ihre verquollenen Augen. Dann holt sie tief Luft. »Es fing damit an, dass meine Mutter ausgeflippt ist, als sie das mit dem Ritzen mitbekommen hat. Und weil ich nicht mit ihr reden wollte, hat sie bei so einer dämlichen Psychoberatungsstelle Hilfe gesucht.« Sie atmet tief durch. »Die haben sie dann an den Landgraf verwiesen. Angeblich hat er so große Erfolge mit seiner Arbeit erzielt, besonders bei schwierigen Jugendlichen.« Mila verzieht ihre Oberlippe zu einem verächtlichen Kräuseln, das sie wie eine verbitterte alte Frau wirken lässt. »Man arbeitet gern mit ihm, haben sie gesagt. Ha!«
    Mein Bauch krampft sich zusammen, wenn ich darüber nachdenke, in welche Richtung dieses Gespräch gehen könnte.
    »Er sieht ja für so einen alten Knacker nicht übel aus und am Anfang war er auch sehr freundlich. Ich habe mir deshalb nichts dabei gedacht, als er mir gleich nach dem zweiten Mal in der Gruppe vorgeschlagen hat, dass wir beide allein in die Engelweghöhle gehen könnten.«
    Mila schluckt ein paarmal, als ob ihr Hals trocken wäre.
    »Willst du ein Wasser oder lieber gleich ein Bier?«
    Sie schüttelt den Kopf, aber langsam, als ob Bleikugeln darin herumrollen würden. »Später. Die ersten Male, als wir alleine unterwegs waren, war er echt okay, hat mir mal an den Hintern gefasst oder an die Brust, aber immer wie aus Versehen. Weißt du, man muss da so einen Ganzkörperanzug anziehen, den Schlaz, der sich bei mir immer verheddert hat. Außerdem seilt man sich in Höhlen auch an und legt Gurte um, man muss sich also gegenseitig helfen und anfassen …« Sie wirft mir einen verzweifelten Blick zu. »Es, ich, also ich hab’s nicht kommen sehen«, stottert sie, doch dann sprudelt alles nur so aus ihr heraus. »Verstehst du, dieses Getatsche kam mir nie komisch vor. Aber dann, es war der pure Wahnsinn, so eng und schwierig zu klettern, und als wir fast schon wieder draußen waren, da ist er über mich hergefallen. Hat so getan, als würde ich das auch wollen, als fände ich es super. Ich hab mich gewehrt, ihn sogar mit einem Steigeisen ins Gesicht geschlagen, aber das hat ihn bloß amüsiert. Ich hatte keine Chance, der Mistkerl ist verdammt stark.«
    Milas Stimme zittert und in ihren Augen schwimmen schon wieder Tränen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich möchte sie trösten, möchte meiner Wut freien Lauf lassen, meine Verwunderung ausdrücken. Aber meine Kehle ist wie zugeschnürt. Kein Wort kommt mir in den Sinn, kein Satz, der erklären würde, was mir gerade durch den Kopf geht. Wie versteinert sitze ich da
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