Lovesong
klar ist, weshalb sie das nicht getan hat. Und trotzdem, immerhin ist sie zu unserem Gig gekommen. Also muss sie mir wenigstens ein kleines bisschen verziehen haben.
»Das hab ich auch gesagt. Aber sie musste gleich danach wieder weg. Sie sollte sich eigentlich ein wenig erholen in Bangkok, doch dann stellte sich raus, dass dieser Regen, der während eures Auftritts fiel, anderswo zu einem regelrechten Zyklon anwuchs, und darüber sollte sie eine Fotostory machen. Sie ist mittlerweile eine echt abgebrühte Kriegsberichterstatterin.«
Ich stelle mir vor, wie Kim aufständische Talibanrebellen verfolgt und fliegenden Bäumen ausweicht. Komischerweise ist das ganz leicht. »Schon witzig«, fange ich an.
»Was ist witzig?«, unterbricht Mia mich.
»Dass Kim jetzt Kriegsreporterin ist. Voll das Danger Girl.«
»Ja, echt zum Schreien komisch.«
»So mein ich das doch nicht. Überleg doch mal: Kim. Du. Ich. Wir alle stammen aus diesem Kaff in Oregon, und jetzt schau uns an. Wir alle drei sind irgendwie, na ja, voll die Extreme. Du musst doch zugeben, das ist schon erstaunlich.«
»Das ist überhaupt nicht komisch«, protestiert Mia und kippt Cornflakes in eine Schale. »Wir wurden alle im selben Schmelztiegel geformt. Jetzt komm, iss ein paar Cornflakes.«
Ich habe keinen Hunger. Ich glaube nicht, dass ich auch nur ein einziges Cornflake essen könnte, doch ich setze mich trotzdem, denn soeben habe ich mir offenbar meinen Platz am Tisch der Familie Hall zurückerobert.
Zeit hat Gewicht, und gerade in diesem Augenblick spüre ich das mehr denn je. Es ist schon fast drei. Ein weiterer Tag ist zur Hälfte geschafft, und am Abend werde ich aufbrechen und auf Tour gehen. Ich höre das Ticken der antiken Uhr an der Wand. Bevor ich mich aufraffen kann, wieder etwas zu sagen, lasse ich noch ein paar Minuten verstreichen.
»Wir müssen beide unsere Flüge erwischen. Ich sollte jetzt langsam los«, sage ich. Meine Stimme klingt weit weg, doch komischerweise bin ich völlig ruhig. »Kriegt man hier in der Gegend ein Taxi?«
»Nein, wir pendeln von hier mit dem Floß nach Manhattan«, witzelt sie. »Du kannst dir eins bestellen«, meint sie dann kurz darauf.
Ich erhebe mich, gehe in die Küche und nehme das Telefon von der Küchenablage. »Wie lautet die Nummer?«, erkundige ich mich.
»Sieben-eins-acht«, fängt Mia an. Dann unterbricht sie sich. »Moment.«
Erst denke ich, sie muss über die Nummer nachdenken, doch dann bemerke ich, wie sie mich unsicher und gleichzeitig flehentlich ansieht.
»Da ist noch etwas«, meint sie mit einem Zögern in der Stimme. »Ich hab da was, das eigentlich dir gehört.«
»Mein Wipers-T-Shirt?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das existiert längst nicht mehr, tut mir leid. Komm. Es ist oben.«
Ich folge ihr die knarrenden Stufen hoch. Oben kann ich vom schmalen Flur aus zu meiner Rechten ihr Schlafzimmer mit den Dachschrägen sehen. Links befindet sich eine geschlossene Tür. In der Ecke erkenne ich einen Wandschrank mit einem Keypad. Mia gibt einen Code ein, woraufhin die Tür sich öffnet.
Als ich erkenne, was sie da aus dem Schränkchen holt, rutscht mir beinahe ein beiläufiges Oh, klar, meine Gitarre heraus. Doch dann stockt mir der Atem, als mir bewusst wird, was das eigentlich bedeutet: Hier in Mias Haus in Brooklyn sehe ich tatsächlich meine alte E-Gitarre, meine geliebte Les Paul Junior. Die Gitarre, die ich mir von meinem Verdienst beim Pizzaservice in einem Pfandleihhaus gekauft habe, als ich noch ein Teenie war. Mit dieser Gitarre habe ich all unsere Songs aufgenommen, einschließlich der Nummern auf Collateral Damage. Die Gitarre, die ich für einen wohltätigen Zweck versteigern ließ, was ich anschließend sehr bereut habe.
Sie steckt immer noch in ihrem alten Koffer, mit meinen Fugazi- und K-Records-Aufklebern drauf, und sogar die Aufkleber der Band von Mias Dad sind noch da. Alles ist, wie es war, der Gurt, die Delle, die daher stammt, dass ich sie mal von der Bühne habe runterfallen lassen. Selbst der Staub riecht irgendwie vertraut.
Ich kann es kaum glauben; deshalb dauert es ein paar Sekunden, ehe ich es vollkommen begriffen habe. Das hier ist meine Gitarre. Mia hat sie. Mia war es, die meine Gitarre gekauft hat, zu einem horrenden Preis vermutlich, und das bedeutet, dass sie wusste, dass meine Gitarre zur Auktion stand. Ich sehe mich um. Neben den ganzen Notenblättern und dem Cellozubehör liegt da ein Stapel Magazine, von deren Covern mein Gesicht grinst. Und
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