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Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes

Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes

Titel: Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes
Autoren: Dorothy L. Sayers
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außerordentlich interessant. Das machte die Überraschung, die es dann gab, für mich um so ärgerlicher.
    Ich sollte erwähnen, daß wir mittlerweile noch eine zweite Pflegerin für sie brauchten, denn die Nichte konnte nicht Tag und Nacht bei ihr sein. Die erste kam im April. Es war eine sehr charmante und tüchtige junge Person – die ideale Krankenschwester. Ich konnte mich vollkommen auf sie verlassen. Sie war mir von Sir Warburton Giles besonders empfohlen worden, und obwohl sie damals erst achtundzwanzig war, besaß sie die Besonnenheit und Urteilskraft einer doppelt so alten Frau. Ich sage Ihnen gleich, daß ich eine tiefe Zuneigung zu ihr faßte, und sie zu mir. Wir sind verlobt und hätten dieses Jahr geheiratet – wenn ich nicht so verdammt gewissenhaft und verantwortungsbewußt gewesen wäre.«
    Der Doktor verzog wehmütig das Gesicht und sah Charles an, der etwas halbherzig von wahrhaftem Pech sprach.
    »Meine Verlobte interessierte sich, wie ich, sehr für den Fall – einmal weil es meine Patientin war, aber sie hatte sich auch selbst schon sehr eingehend mit dieser Krankheit befaßt. Sie freute sich schon darauf, mir bei meinem Lebenswerk zu assistieren, sollte ich es je in Angriff nehmen können. Aber das gehört nicht zur Sache.
    So ging es nun bis September weiter. Dann faßte meine Patientin aus irgendeinem Grunde eine dieser unerklärlichen Abneigungen, die man häufig bei Leuten beobachtet, die nicht mehr ganz richtig im Kopf sind. Sie hatte sich in die Angst hineingesteigert, die Schwester wolle sie umbringen – Sie erinnern sich, daß es bei ihrem Anwalt auch so war –, und versuchte ihrer Nichte allen Ernstes einzureden, man wolle sie vergiften. Zweifellos hat sie darin die Ursache für ihre Schmerzen gesehen. Es war sinnlos, mit ihr zu reden – sie hat geschrien und wollte die Schwester nicht in ihre Nähe lassen. Nun, in einem solchen Falle bleibt einem nichts anderes übrig, als die Schwester zu entlassen, denn sie kann der Patientin ja sowieso nichts mehr nützen. Ich habe also meine Verlobte nach Hause geschickt und an Sir Warburtons Klinik telegraphiert, man möge mir eine andere Pflegerin schicken.
    Die neue Schwester kam am nächsten Tag. Natürlich war sie für mich gegenüber der anderen nur zweite Wahl, aber sie schien ihrer Aufgabe gewachsen zu sein, und die Patientin hatte nichts gegen sie einzuwenden. Aber allmählich bekam ich jetzt Schwierigkeiten mit der Nichte. Diese endlos sich hinziehende Geschichte muß dem armen Ding wohl an die Nerven gegangen sein. Sie setzte es sich in den Kopf, ihrer Tante ginge es sehr viel schlechter. Ich sagte ihr, natürlich müsse es allmählich immer mehr mit ihr bergab gehen, aber sie halte sich großartig, und zu unmittelbarer Sorge bestehe kein Anlaß. Das Mädchen gab sich damit aber keineswegs zufrieden, und einmal, Anfang November, ließ sie mich mitten in der Nacht eilig herbeirufen, weil ihre Tante im Sterben läge.
    Als ich hinkam, traf ich die Patientin mit starken Schmerzen an, aber von Lebensgefahr war keine Rede. Ich habe die Schwester angewiesen, Morphium zu injizieren, und der Nichte habe ich ein Beruhigungsmittel gegeben und gesagt, sie solle sich ins Bett legen und am nächsten Tag keine Pflegearbeiten tun. Am Tag darauf habe ich die Patientin sehr gründlich untersucht, und es ging ihr sogar noch viel besser, als ich angenommen hatte. Ihr Herz schlug ungewöhnlich kräftig und gleichmäßig, ihre Nahrung verarbeitete sie erstaunlich gut, und das Fortschreiten der Krankheit schien vorübergehend gestoppt.
    Die Nichte entschuldigte sich für ihren Auftritt und erklärte, sie habe wirklich geglaubt, ihre Tante liege im Sterben. Ich sagte, ich könne im Gegenteil jetzt sogar garantieren, daß sie noch fünf bis sechs Monate zu leben habe. Sie müssen wissen, daß man in solchen Fällen den Verlauf mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen kann.
    ›Auf alle Fälle‹, habe ich zu ihr gesagt, ›würde ich mich an Ihrer Stelle nicht zu sehr aufregen. Der Tod, wenn er kommt, wird eine Erlösung von ihren Leiden sein.‹
    ›Ja‹, sagte sie, ›armes Tantchen. Ich fürchte, ich bin egoistisch, aber sie ist nun mal die einzige Verwandte, die ich auf der Welt habe.‹
    Drei Tage später, ich wollte mich gerade zum Abendessen hinsetzen, kam ein Anruf. Ob ich sofort kommen könne. Die Patientin sei tot.«
    »Mein Gott!« rief Charles. »Es ist doch vollkommen klar–«
    »Schweig, Sherlock«, sagte sein Freund, »an der Geschichte des
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