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Letzte Beichte

Letzte Beichte

Titel: Letzte Beichte
Autoren: Helen FitzGerald
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Papierlaterne aus dem Nachbargarten unterm Kinn kitzelte. Robbie schaute lachend hoch, und es war unübersehbar, dass er sich fragte, warum um alles in der Welt ich so schnell zurück sei. Also machte ich kurz mit bei der Kitzelei und gab Chas einen Kuss auf seine schönen, perfekten Malerhände (dieselben Hände, in die ich mich vor zwei Jahren auf dem Rücksitz eines Ford verliebt hatte).
    Dann machte ich kehrt und lief zum Auto. Den ganzen Weg über erfüllte mich eine andere Art von Kummer: die Art, die aneinen körperlichen Schmerz erinnert, weil man letztlich nicht einmal als Mutter unersetzbar ist.
    Es schiffte, als ich an zwei Hochhäusern vorbeiging, die irgendjemand mitten ins Ödland geklatscht hatte. Der Wind pfiff zwischen ihnen hindurch, und sie schwankten. Ich sah hoch und fragte mich, wer da oben in zweiundzwanzig Stockwerken Höhe wohl alles mitschwankte, wessen fleckige Kaffeebecher auf dem Küchentisch erst nach links, dann nach rechts rutschten. Mir wurde schwindlig dabei, also blickte ich nach unten und konzentrierte mich aufs Gehen, was nicht leicht war, da der Wind mich vorwärts drückte, wie wenn er sagen wollte: Geh weg hier, geh weg.
    Das Vorstellungsgespräch fand an meinem potenziellen neuen Arbeitsplatz in einer heruntergekommen Gegend statt (wenn ich doch nur auf die Warnung des Windes gehört hätte) – will sagen: eine Gegend, die das Allerletzte ist; eine Gegend, in der die Fenster mit Brettern vernagelt sind und kein Kind auf den Spielplätzen spielt; eine Gegend, in der es mehr Wind als in anderen Gegenden gibt, selbst wenn die nur wenige Meter entfernt sind – mehr Wind und keine Straßennamen, keine Hausnummern, keine Zebrastreifen. Eine Gegend, in die man nicht einfach so geht, sondern nur mit einem Messer bewaffnet und der Bereitschaft, es zu benutzen. Mitten auf der Fahrbahn gingen Menschen, die offensichtlich fest entschlossen waren, sich der von Autos verkörperten Gewalt des Mammons nicht zu beugen. An den Ecken standen Grüppchen junger Männer, die mit Rauschgift dealten, sofern sie nicht gerade die Steakpasteten aus der nächstgelegenen Greggs-Filiale aßen.
    Ich ging an ihnen vorbei und fragte mich, ob sie wohl merkten, dass gerade eine Außenseiterin vorbeispazierte. Jemand aus einer anderen Gegend. Einer Gegend, die nur zwei Meilen entfernt war. Einer Gegend, wo es Hausnummern, Lavazza und Hoffnung gab.
    Das Vorstellungsgespräch lief nicht gut. Plötzlich wollte ich nur noch zu Hause bei Robbie sein, vor allem angesichts des trostlosen Zustands, in dem sich das Büro und seine Umgebung befanden. Trotzdem versuchte ich, den drei Leuten, die mich ausfragten, Enthusiasmus vorzuspielen, als ich da auf meinem wackeligen Stuhl inmitten eines großen, hässlichen und mit allerlei Krempel vollgestopften Raumes saß.
    In meiner Ausbildung zur Sozialarbeiterin hatte ich viele wichtige Sachen lernen können – Risikoabschätzung, Antidiskriminierung, Krisenintervention und so weiter. Aber eine der wichtigsten Lektionen, die jeder, der diese Ausbildung durchlief, von Grund auf lernte und lebenslang nicht mehr vergaß, war die folgende Regel: Zieh dich so fürchterlich an, dass sich die Junkies in der Methadonklinik im Vergleich zu dir schick fühlen.
    Die drei hier hatten es mit dieser Regel etwas zu weit getrieben. Stellen Sie sich den Stil und die Eleganz überzeugter Christen vor und vervierfachen Sie selbige, dann haben Sie die drei Sozialarbeiter, die mich damals befragten. Lobenswerter Mut zur Hässlichkeit, ohne Kompromisse, vom Scheitel bis zur Sohle. Samt fettigen Haaren, schlechten Zähnen und Klamotten, die entweder zu klein oder zu groß, aber jedenfalls spottbillig waren.
    Als sie mich mit Fragen bombardierten, fiel mir wieder ein, warum es sich so gut angefühlt hatte, mit der Sozialarbeit aufzuhören: Sozialarbeiter sind extrem ernsthafte Menschen, und sie haben oft Mundgeruch.
    Ich hatte die falsche Ausbildung, und ich bewarb mich auf die falsche Stelle. So dachte ich, als ich an meinem Handrücken leckte und daran roch.
    (Oh je … Kaffeezunge. Vielleicht doch nicht.)
    Die Fragen waren die gleichen wie bei meinem ersten Vorstellungsgespräch vor zehn Jahren. Ich beantwortete sie halbherzig, schwafelte ein bisschen herum und zitierte die passenden Stellen aus meiner Diplomarbeit, soweit ich mich daran erinnerte. Einmal versuchte ich, witzig zu sein. »Meine Schwächen?« wiederholte ich. »Na ja, da wäre mein Perfektionismus, der kann schwierig sein. Und ich
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