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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Autoren: Victor Hugo
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übrigens dieser G. ein Geier? Ja, wenigstens nach der Wildheit zu schließen, mit der er sich in der Einsamkeit vergrub. Da er nicht für den Tod des Königs gestimmt hatte, war er ja von den Verbannungsdekreten nicht betroffen und durfte sich in Frankreich aufhalten.
    Er wohnte drei viertel Stunden von der Stadt entfernt, abseits von jeder menschlichen Siedlung, fern von allen Wegen, in einem versteckten Winkel eines einsamen Tales. Dort hatte er, wie es hieß,ein Stück Acker, eine Höhle – einen Zufluchtsort. Keine Nachbarn; nicht einmal, daß jemand dort vorüberkam. Seit er in jenem Tal wohnte, war das Gras über den Pfad gewachsen. Man sprach von jenem Ort wie vom Hause des Henkers.
    Der Bischof jedoch dachte an den Mann, sah von Zeit zu Zeit hinab in jenes Tal und ließ seinen Blick auf der Baumgruppe verweilen, die am fernen Horizont das Haus des alten Konventsmitgliedes bezeichnete. Dort ist eine Seele, dachte er, die einsam ist.
    Ich schulde ihm einen Besuch, empfand er.
    Doch wollen wir es offen einbekennen, dieser Gedanke schien ihm, so natürlich er auch im ersten Augenblick war, nach kurzer Überlegung seltsam und unmöglich, ja widerwärtig. Im Grunde genommen teilte er die allgemeine Meinung, und das Konventsmitglied flößte ihm, ohne daß er sich dessen klar bewußt war, ein Gefühl ein, das an der Grenze des Hasses liegt.
    Indessen, darf die Räude des Schafes den Hirten zurückscheuchen? Nein. Aber welch ein Schaf war das nun!
    Der gute Bischof befand sich in einer schwierigen Lage. Manchmal machte er sich auf den Weg, um dorthin zu gehen, kam aber unverrichteterdinge wieder zurück.
    Eines Tages hieß es in der Stadt, ein junger Hirt, der dem alten G. diente, sei um einen Arzt gekommen; der alte Schuft sterbe, er sei bereits gelähmt und werde die Nacht nicht überleben.
    Gott sei Dank, meinten manche.
    Der Bischof nahm seinen Stock, schlüpfte in den Mantel, denn seine Soutane war bereits allzu schäbig, oder auch, um sich nicht dem kalten Abendwind auszusetzen, und machte sich auf den Weg.
    Die Sonne berührte bereits den Horizont, als der Bischof den fluchbeladenen Ort erreichte. Nicht ohne Herzklopfen sah er sich endlich der Hütte gegenüberstehen. Er überquerte einen Graben, stieg über eine Hecke, gelangte durch einen Vorgarten an einen Platz, von dem aus er zwischen hohem Gesträuch die Behausung erkannte. Es war eine niedrige, einfache, saubere Hütte mit einer vergitterten Fassade. Vor der Tür saß in einem Rollstuhl, wie ihn die Landleute gebrauchen, ein Mann mit weißen Haaren, der der Sonne zulächelte. Neben ihm stand ein junger Bursche, wohl jener Hirt, und reichte ihm eine Schale Milch.
    Während der Blick des Bischofs auf ihm ruhte, wandte sich der Greis an den Knaben.
    »Danke«, sagte er, »ich brauche nichts mehr.« Sein freundlicher Blick hatte sich von der Sonne gelöst und ruhte jetzt auf dem Burschen.
    Der Bischof trat näher. Das Geräusch seiner Schritte veranlaßte den Greis, sich umzuwenden, und sein Gesicht zeigte alle Verwunderung, die man nach einem langen Leben noch zu empfinden vermag.
    »Seit ich hier bin«, sagte er, »ist dies das erstemal, daß man zu mir kommt. Wer sind Sie, mein Herr?«
    »Ich heiße Bienvenu Myriel.«
    »Bienvenu Myriel. Diesen Namen habe ich gehört. Sind Sie der, den das Volk Bischof Bienvenu nennt?«
    »Derselbe.«
    Der Greis lächelte leise.
    »Demnach sind Sie mein Bischof?«
    »In gewissem Sinne …«
    »Treten Sie ein, mein Herr.«
    Das Konventsmitglied bot dem Bischof die Hand, aber der nahm sie nicht. Er sagte nur:
    »Ich freue mich zu sehn, daß man mich falsch unterrichtet hat. Sie scheinen mir nicht krank zu sein.«
    »Ich werde bald ganz gesund sein«, erwiderte der Greis. Und nach einer Pause: »In drei Stunden sterbe ich. Ich verstehe mich ein wenig auf Medizin. Ich weiß, wie der Tod sich vorbereitet. Gestern waren nur die Füße kalt, heute ist die Kälte bis zu den Knien hinaufgestiegen; jetzt fühle ich, wie sie langsam zum Leib hinansteigt. Sobald sie das Herz erreicht, wird es mit mir aus sein. Schönes Wetter heute, ja? Ich habe mich herausfahren lassen, um einen letzten Blick auf all diese Dinge zu werfen. Sprechen Sie ruhig, es strengt mich nicht an. Sie taten recht, einen Mann zu besuchen, der stirbt. Es ist gut, in diesem Augenblick nicht allein zu sein. Man hat so seine besonderen Wünsche. Ich hätte gern bis Tagesanbruch gelebt, aber ich weiß, daß meine Kraft kaum noch drei Stunden vorhält. Dann ist
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