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Kunst des klaren Denkens

Kunst des klaren Denkens

Titel: Kunst des klaren Denkens
Autoren: R Dobelli
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Kleidergeschäft betrieben. Sid war für den Verkauf zuständig, Harry leitete das Schneideratelier. Immer wenn Sid bemerkte, dass dem Kunden, der vor dem Spiegel stand, ein Anzug wirklich gefiel, stellte er sich ein bisschen schwerhörig. Wenn der Kunde dann nach dem Preis fragte, rief Sid seinem Bruder entgegen: »Harry, wie viel für diesen Anzug?« Harry sah von seinem Schneidertisch auf und rief zurück: »Für diesen schönen Baumwollanzug 42 Dollar« – ein damals komplett überrissener Preis. Sid tat so, als hätte er nichts verstanden: »Wie viel?« Und Harry wiederholte den Preis: »42 Dollar!« Jetzt drehte sich Sid zu seinem Kunden um: »Er sagt 22 Dollar.« An diesem Punkt legte der Kunde schleunigst die 22 Dollar auf den Tisch und eilte mit dem teuren Stück aus dem Laden, bevor der arme Sid den »Fehler« bemerken würde.
    Vielleicht kennen Sie das folgende Experiment aus Ihrer Schulzeit: Sie nehmen zwei Eimer. Den ersten füllen Sie mit lauwarmem Wasser, den zweiten mit Eiswasser. Sie tauchen Ihre rechte Hand eine Minute lang ins Eiswasser. Danach stecken Sie beide Hände gleichzeitig ins lauwarme Wasser. Was spüren Sie? Links fühlt sich das Wasser lauwarm an, in der rechten heiß.
    Die Geschichte von Sid und Harry und das Wasserexperiment basieren beide auf dem Kontrasteffekt : Wir beurteilen etwas als schöner, teurer, größer und so weiter, wenn wir zugleich etwas Hässliches, Billiges, Kleines und so weiter vor uns haben. Wir haben Mühe mit absoluten Beurteilungen.
    Der Kontrasteffekt ist ein häufiger Denkfehler. Sie bestellen Ledersitze für Ihr neues Auto, weil die 3.000 Euro verglichen mit den 60.000, die der Wagen kostet, eine Kleinigkeit sind. Alle Branchen, die von Ausstattungsoptionen leben, spielen mit dieser Täuschung.
    Der Kontrasteffekt wirkt aber auch anderswo. Experimente zeigen, dass Leute einen Fußweg von zehn Minuten auf sich nehmen, um bei einem Nahrungsmittel zehn Euro zu sparen. Aber niemand käme auf die Idee, einen zehnminütigen Weg auf sich zu nehmen, wenn er einen Anzug am anderen Ende der Straße für 979 statt 989 Euro kaufen könnte. Ein irrationales Verhalten, denn zehn Minuten sind zehn Minuten und zehn Euro sind zehn Euro.
    Völlig undenkbar ohne Kontrasteffekt ist das Discountgeschäft. Ein Produkt, das von 100 Euro auf 70 reduziert wurde, erscheint billiger als ein Produkt, das schon immer 70 kostete. Dabei darf es doch keine Rolle spielen, welches der Ausgangspreis war. Letzthin hat mir ein Anleger gesagt: »Die Aktie ist billig, denn sie liegt 50   % unter dem Höchstkurs.« Ich schüttelte den Kopf. Ein Börsenkurs ist nie »tief« oder »hoch«. Er ist, was er ist, und eszählt einzig die Frage, ob er ab diesem Punkt steigt oder fällt.
    Auf Kontrast reagieren wir wie Vögel auf einen Gewehrschuss. Wir flattern auf und werden aktiv. Die Kehrseite: Kleine, graduelle Veränderungen bemerken wir nicht. Ein Magier klaut Ihnen die Uhr, weil er an einer anderen Stelle Ihres Körpers starken Druck ausübt, sodass Sie die leichte Berührung an Ihrem Handgelenk gar nicht registrieren. Ebenso wenig fällt uns auf, wie unser Geld verschwindet. Es verliert laufend an Wert, aber wir bemerken es nicht, weil die Inflation graduell verläuft. Würde sie uns in Form einer brutalen Steuer auferlegt – was sie im Grunde ist –, wären wir empört.
    Der Kontrasteffekt kann ganze Leben ruinieren: Eine entzückende Frau heiratet einen ziemlich durchschnittlichen Mann. Warum? Ihre Eltern waren furchtbar, und so erscheint ihr der durchschnittliche Typ besser, als er wirklich ist. Und zum Schluss: Bombardiert von Werbung mit Supermodels erscheinen selbst schöne Frauen als mäßig attraktiv. Wenn Sie als Frau einen Mann suchen, gehen Sie deshalb nie in Begleitung Ihrer Modelfreundinnen aus. Männer werden Sie als weniger attraktiv einschätzen, als Sie in Wahrheit sind. Gehen Sie allein. Noch besser: Nehmen Sie zwei hässliche Freundinnen mit auf die Party.

THE AVAILABILITY BIAS
    Warum Sie lieber einen falschen Stadtplan als gar keinen verwenden

    »Er hat sein Leben lang jeden Tag drei Schachteln Zigaretten geraucht und wurde über 100 Jahre alt. So schädlich kann Rauchen also nicht sein.« Oder: »Hamburg ist sicher. Ich kenne jemanden, der lebt mitten in Blankenese. Der schließt seine Tür nie ab, nicht einmal, wenn er in den Urlaub fährt, und noch nie wurde bei ihm eingebrochen.« Solche Sätze wollen irgendetwas beweisen – doch sie beweisen überhaupt nichts.
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