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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher
Autoren: Paul Grossman
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andeutete, wegen des »Zwangs des kollektiven Unbewussten«, sondern eigentlich nur, weil er den Geschmack nicht mochte. Das machte ihn in Deutschland zu einem krassen Außenseiter. Und es war außerdem ein ständiges Thema bei diesen verdammten Mittagessen.
    »Was denn, Kraus, heute keine Schweinshaxen?« Müller würde ihm den Arm um die Schulter legen. »Habe gehört, die Haxen sind heute besonders zart.«
    »Vielleicht zum Abendessen«, antwortete Kraus dann.
    Er hatte sich schon vor langer Zeit daran gewöhnt, diese Art von Köder nicht zu schlucken. In der Armee waren die Sprüche auf ihn herabgehagelt. Nicht nur wegen seiner Ernährung, sondern auch wegen seiner Nase. Seines Haares. Seines »türkischen« Teints. Das ließ rasch nach, als im Laufe des ersten Jahres die Stahlgewitter auf sie herabprasselten. Hier jedoch, im Präsidium, wollte dieses Judenthema einfach nicht verstummen.
    Die Cafeteria war voll. Horthstaler hatte ihren Stammtisch im hinteren Teil des Raumes reserviert. Alle waren da. Müller. Meyer. Hiller. Stoss. Und natürlich Freksa.
    Kraus nickte ihnen zu, bestellte Hühnerschnitzel und achtete nicht auf das, was die anderen aßen. Nach einer Weile rülpste Horthstaler, wischte sich über die wulstigen Lippen und machte Anstalten, anzufangen. Für Horthstaler hatte das Essen immer Vorrang. Trotzdem war er nicht fett. Irgendwie schaffte er es, die Berge von Essen zu verarbeiten.
    »Also.« Er zog einen Aktenordner hervor und leckte sich die Finger, bevor er darin blätterte. »Zunächst mal möchte ich euch allen gratulieren. Unsere Abteilung hat wieder den ersten Platz bei den wenigsten Fehlzeiten belegt. Ich habe immer behauptet, dass unsere Truppe die fleißigste und gewissenhafteste Abteilung der Mordkommission wäre. Und ihr, meine Herrn Kriminalbeamte, beweist erneut, dass ich recht habe.«
    Eine halbe Stunde lang versuchte Kraus, so gut er konnte, den Anschein zu erwecken, als würde er auf Horthstaler achten. Aber er konnte sich einfach nicht von dem Jutesack losreißen. Zuerst einmal, dachte er, musste er versuchen herauszufinden, was diese Passage aus dem Brief an die Epheser bedeutete ... Kinder des Zorns. Vielleicht erbrachte die Anfrage ja etwas, die er gestern in der Bibliothek gestellt hatte. Wenn das tatsächlich eine »Beerdigung« gewesen war, wie Dr. Hoffnung spekuliert hatte, versuchte die Person, die sie durchgeführt hatte, möglicherweise, etwas mitzuteilen.
    Zweitens musste man die Reise des Jutesacks durch die Kanalisation zurückverfolgen.
    »Und jetzt zu den Fallzuteilungen ...« Kraus hörte kaum hin, war vollkommen in Gedanken versunken. Dieses Überlaufrohr, das den Jutesack ins Freie befördert hatte, führte möglicherweise auch zu seinem Ursprung zurück. Oder auch nicht, wenn jemand den Sack nur hineingeworfen hatte, um Spuren zu verwischen.
    »Kraus ...« Er zuckte zusammen. Horthstaler sah alle an, nur nicht ihn, »hat neulich diesen höchst ungewöhnlichen Jutesack in Lichtenberg reingeholt. Die Ermittlungen werden jetzt in die fähigen Hände von Hans Freksa gegeben.«
    Kraus blinzelte und blickte dann über den Tisch. Freksas Grinsen sagte ihm, dass er Horthstaler nicht missverstanden hatte. Sie nahmen ihm seinen Fall weg.
    Die Neuigkeiten von dem Jutesack und den bizarren Knochen hatten sich bereits im ganzen Polizeipräsidium herumgesprochen, bevor Kraus auch nur aus Lichtenberg zurückgekommen war. Berlin litt keinen Mangel an schlagzeilenträchtigen Verbrechen, aber das hier versprach eindeutig ein Knüller zu werden. Und Hans Freksa war nicht nur ein verdammt guter Kriminalbeamter, sondern konnte auch seinen Namen gar nicht oft genug in der Zeitung lesen. Warum war die Polizei so schnell auf der richtigen Spur? Ein Name ist es wert, genannt zu werden ... Hans Freksa. Mithilfe fortschrittlicher Polizeimethoden hat Freksa einen Erfolg nach dem anderen erzielt ... Hans Freksa ist vielleicht Berlins fähigster Kriminalbeamter ...
    Berlins Polizei war die beste von Deutschland. Fünfundachtzig Prozent der Mordfälle in der Stadt waren letztes Jahr aufgeklärt worden, im Vergleich zu den fünfundsiebzig Prozent im Rest der Republik. Und Freksa übertraf den Durchschnitt der Stadt, hatte neunzig Prozent seiner Fälle gelöst – das stimmte. Aber es stimmte auch, dass Kraus’ Quote genauso hoch war. Und etliche andere Beamte der Mordkommission übertrafen sie sogar beide. Aber weil Freksa so sympathisch war, weil Freksa so fotogen war, weil Freksa ledig
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