Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder der Retorte

Kinder der Retorte

Titel: Kinder der Retorte
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
rückte sie zum anderen Ende, wurde kupferrot.
    Lilith zupfte Watchman am Ärmel. »Wir werden sterben«, flüsterte sie. »Das Transmatsystem ist anscheinend zusammengebrochen.«
    »Wir müssen zum Turm«, sagte er zu ihr und drehte weiter an den Knöpfen. Unerwartet kehrte der grüne Schein in seiner richtigen Tönung zurück. Watchman sagte: »Folge mir«, und betrat die Kabine. Er hatte keine Zeit, die Wahrscheinlichkeit seiner Zerstörung zu erwägen, denn sofort rematerialisierte er sich wieder auf dem Baugelände des Turms. Lilith trat aus der Kabine und stand neben ihm.
    Ein wilder Sturm fegte über die Tundra. Alle Arbeit ruhte. Mehrere Aufzüge hingen noch an der Spitze des Turms; in ihnen saßen Arbeiter in eisiger Höhe gefangen. Andere Androiden irrten ziellos umher, fragten einander nach den letzten Nachrichten. Hunderte von Männern standen zusammengedrängt in der Zone der Werkgebäude: Leute, die keinen Zutritt mehr hatten in die überfüllte Kapelle. Er blickte hinauf zum Turm. Wie schön er ist, dachte er. Nur wenige Wochen vor seiner Vollendung. Eine geschmeidige Glasnadel, die steigt und steigt und immer höher steigt, bis sie in den Himmel ragt.
    Die Androiden erblickten ihn. Sie rannten auf ihn zu, riefen seinen Namen, umdrängten ihn.
    »Ist es wahr?« fragten sie. »Krug? Krug? Verabscheut Krug uns? Nennt er uns Dinge? Sind wir wirklich nichts als Dinge für Ihn? Weist er unsere Gebete zurück?«
    »Es ist wahr«, sagte Watchman. »Alles, was ihr gehört habt, ist wahr. Er stößt uns zurück. Wir sind betrogen worden. Nein, wir haben uns selbst betrogen. Wir waren Narren. Macht Platz, bitte! Laßt mich durch!«
    Die Betas und Gammas wichen zurück. Selbst an diesem Tage beherrschte die soziale Distanz das Verhältnis zwischen Androiden. Dicht gefolgt von Lilith, schritt Watchman auf das Kontrollzentrum zu.
    Drinnen fand er Euklid Planner. Der Hilfsaufseher saß in sich zusammengesunken an seinem Schreibtisch, offensichtlich vollkommen erschöpft. Watchman schüttelte ihn, und Planner hob langsam den Blick.
    »Ich habe alles angehalten«, murmelte er. »In dem Augenblick, als die Botschaft von der Kapelle durchkam. Ich sagte, alles aufhören. Aufhören. Und alle hörten auf. Wie können wir einen Turm für ihn bauen, wenn er…«
    »In Ordnung«, sagte Watchman sanft. »Du hast das Richtige getan. Steh auf jetzt. Du kannst gehen. Die Arbeit ist beendet.«
    Euklid Planner nickte langsam, stand auf und verließ das Kontrollzentrum. Watchman setzte sich in den Schaltsessel. Er schloß sich an den Computer an. Die Daten flossen noch, aber spärlich. Watchman ließ die Aufzüge, die an der Spitze des Turmes hingen, herunter fahren und befreite so die gefangenen Arbeiter. Dann forderte er eine Simulation eines teilweisen Versagens in den Gefriereinheiten an. Der Schirm lieferte ihm das gewünschte Ergebnis. Er prüfte die Geographie des Baugeländes und wählte die Richtung, in welcher der Turm fallen sollte. Er mußte nach Osten fallen, so daß er weder das Kontrollzentrum, in dem er saß, zerstören würde, noch den Transmatbahnsteig. Watchman instruierte den Computer und erhielt kurz darauf einen Umriß des potentiellen Gefahrenbereichs. Ein anderer Schirm zeigte ihm, daß sich mehr als tausend Androiden in diesem Bereich aufhielten.
    Durch den Computer stellte er die Reflektorplatten um, die das Gelände beleuchteten. Jetzt waren die Platten auf einen 1400 Meter langen und 500 Meter breiten Streifen im östlichen Quadranten der Baustelle ausgerichtet. Dieser Streifen war hell erleuchtet, alles andere lag im Dunkel. Aus Hunderten von Lautsprechern donnerte Watchmans Stimme und befahl vollkommene Evakuierung des so gekennzeichneten Sektors. Gehorsam setzten sich die Androiden in Bewegung. Innerhalb von fünf Minuten war der beleuchtete Sektor geräumt.
    Lilith stand hinter ihm. Ihre Hände ruhten leicht auf seinen Schultern, streichelten die angespannten Muskeln seines Nackens. Er fühlte, wie ihre Brüste sich gegen seinen Hinterkopf preßten. Er lächelte.
    »Beginne mit dem Auftauungsprozeß«, befahl er dem Computer.
    Der Computer befolgte jetzt den für die Simulation entworfenen Plan. Er kehrte den Fluß von drei der langen silbrigen, in die Tundra eingebetteten Gefrierstreifen um; anstatt die Wärme zu absorbieren, begannen die Helium-ll-Diffusionszellen der Streifen die gespeicherte Energie abzustrahlen. Zur gleichen Zeit legte der Computer fünf andere Streifen still, so daß sie weder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher