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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig
Autoren: Truman Capote
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warten; trotzdem, hätte Dick ihm nicht immer wieder eingetrichtert, dass es in den nächsten vierundzwanzig Stunden auf jede einzelne Minute ankam, hätte er es vermutlich nicht einmal bemerkt. Die Zeit wurde ihm selten lang, da er sie sich auf vielerlei Art und Weise zu vertreiben wusste – etwa indem er in den Spiegel schaute. Dick hatte einmal zu ihm gesagt:
    »Immer, wenn du vor dem Spiegel stehst, hast du so einen verklärten Blick. Wie wenn du eine irre scharfe Braut gesehen hättest. Mein Gott, kriegst du davon denn nie genug?« Im Gegenteil; er konnte sich gar nicht sattsehen an seinem Gesicht. Es wirkte aus jeder Perspektive anders. Es war das Gesicht eines wankelmütigen Menschen, und in unzähligen Stunden vor dem Spiegel hatte er gelernt, seine Miene wie auf Knopfdruck zu verändern, mal bedrohlich, mal verschmitzt, mal melancholisch dreinzublicken; ein sanftes Neigen des Kopfes, ein zartes Schürzen der Lippen, und schon war aus dem verschlagenen Zigeuner ein empfindsamer Romantiker geworden.
    Seine Mutter war eine reinblütige Cherokee gewesen; von ihr hatte er sein Aussehen – den bräunlichen Teint, die dunklen, feucht schimmernden Augen und das mit Brillantine gepflegte schwarze Haar, welches so reichlich spross, dass es nicht nur für üppige Koteletten, sondern auch für einen fettglänzenden Pony reichte. Das Erbe seiner Mutter war ihm deutlich anzusehen; nicht so das seines Vaters, eines sommersprossigen, rotblonden Iren, als hätte das indianische Blut seine keltischen Wurzeln gänzlich ausgemerzt. Dennoch verrieten seine rosigen Lippen und die kecke Nase seine Herkunft, ebenso wie sein spitzbübisches Temperament und die irische Dünkelhaftigkeit, die häufig durch die Cherokee-Maske schimmerte und ganz von ihm Besitz ergriff, wenn er Gitarre spielte und sang. Singen und der Gedanke, es vor Publikum zu tun, waren eine weitere, geradezu berauschende Methode, sich die Stunden zu vertreiben. Dabei stellte er sich immer dasselbe vor – einen Nachtclub in Las Vegas, seiner Heimatstadt. Ein eleganter Saal voll Prominenz, die gebannt an den Lippen dieses strahlenden neuen Sterns am Schlagerhimmel hing, der seine berühmte, mit Streichern veredelte Version von I’ll Be Seeing You zum Vortrag brachte und als Zugabe seine neueste selbstkomponierte Ballade:
     
    Im April, wie jedes Jahr,
    Kommt der Papageien Schar geflogen
    Bunt ist ihr Gefieder
    Süß sind ihre Lieder
    Singend bringen sie den Frühling im April …
     
    (Als er diesen Song das erste Mal hörte, meinte Dick:
    »Papageien singen nicht. Krächzen, ja. Sprechen, vielleicht. Aber singen? Nö.« Nun war Dick ein eher sachlicher Mensch, ein sehr sachlicher sogar – er hatte keinerlei Verständnis für Poesie oder Musik –, und doch war es im Grunde genau diese Sachlichkeit, diese pragmatische Sicht der Dinge, derentwegen Perry sich zu ihm hingezogen fühlte, denn im Vergleich mit ihm wirkte Dick knallhart, unverwundbar, »männlich, durch und durch«.)
    Aber so angenehm diese Las-Vegas-Träumereien auch waren, sie verblassten neben einer anderen Fantasie. Seit seiner Kindheit, sprich mehr als der Hälfte seiner einunddreißig Lebensjahre, ließ er sich Literatur schicken (»EIN VERMÖGEN DURCH TAUCHEN! Trainieren Sie zu Hause in Ihrer Freizeit. Spitzenverdienst garantiert. GRATISBROSCHÜRE …«) und schrieb auf Anzeigen (»VERSUNKENE SCHÄTZE! Fünfzig echte Schatzkarten!
    Einmaliges Angebot …«), die sein Verlangen schürten, ein Abenteuer zu verwirklichen, das er in Gedanken immer wieder durchlebte: den Traum, unbekannte Tiefen zu erforschen, im grünen Meeresdämmer zu verschwinden, vorbeizugleiten an den geschuppten, wildäugigen Bewachern eines Schiffswracks, das sich bedrohlich in der Dunkelheit abzeichnete, eine spanische Galeone samt ihrer gesunkenen Fracht – Perlen, Diamanten und Schatztruhen, bis zum Rand gefüllt mit Gold. Ein Wagen hupte. Endlich – Dick.
     
    »Mein Gott, Kenyon! Ich hab’s ja gehört!«
    Kenyon hatte mal wieder den Teufel im Leib. Sein Geschrei hallte die Stufen herauf: »Nancy! Telefon!«
    Barfuß und im Schlafanzug flitzte Nancy die Treppe hinunter. Im Haus gab es zwei Telefone – eins im Büro ihres Vaters, das andere in der Küche. Sie ging an den Apparat in der Küche: »Hallo? Ach, guten Morgen, Mrs. Katz.«
    Und Mrs. Clarence Katz, die Frau eines Farmers, der am Highway wohnte, sagte: »Ich habe deinem Daddy doch ausdrücklich gesagt, dass er dich schlafen lassen soll.
    ›Nancy ist
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