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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
Autoren: Rainald Goetz
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sperrte auf, stellte den Container, der vor der Türe stand, zur Seite, machte die Türe auf und ging in dem Zimmer, wo in der Mitte ein Durchgang freigehalten war, bis zur Küchenecke. Dort ließ er sich am Waschbecken ein Glas Wasser einlaufen und zündete sich noch eine Zigarette an. Dann stand er an die Spüle gelehnt, rauchte und trank Wasser. Er sah den leeren Stuhl vor sich, wollte sich dort hinsetzen, blieb stehen, dann war das Telefon, das er vorhin im Büro fast mitgenommen hätte, nocheinmal gedanklich in seinem Kopf sehr präsent, gefolgt von einer Kaskade möglicher Handlungen, auch illegaler Art, die sich aus dem Wissen hätten ergeben können, das durch die Mitnahme des Telefons in ihm zusammengekommen wäre, wegen der daraus folgenden Komplikationen seines Lebens, die er vermeiden wollte, von ihm wahrscheinlich richtigerweise abgelehnte, eventuell auch generell abzulehnende Handlungen usw. Zu verschiedenen Punkten dieser Überlegung kamen dann verschiedene Zweifel in Henze auf, denen er im Moment aber nicht in weitere Erwägungen hinein folgen wollte. Er war nämlich müde, ging zum Bett, räumte die dortigen Kartons zur Seite und stellte einen Bottich voll Wasser innen vor die Türe, aus Gewohnheit und zur Sicherheit. Dann zog er sich die Schuhe und die Hose aus und legte sich zum Schlafen hin. Bei geschlossenen Augen, auf dem Rücken liegend, wartete er auf den Schlaf. Nach einer Zeit, in der nichts passiert war, außer dass es in seinem Kopf immer unruhiger geworden war, machte Henze die Augen wieder auf und lauschte hinaus in den anbrechenden Morgen.

III
    Holtrop hatte mit der flachen Hand, »pa, pa, pa!«, auf den Tisch gehauen, um sich zu verabschieden, die Gläser sprangen, es klirrte, »meine Herren!« rief er aus, von den anderen Tischen kamen einige Blicke, die Gespräche im Festsaal waren für einen Moment leiser geworden, an Holtrops eigenem Tisch wurde gelacht, da war er schon aufgestanden, verbeugte sich, breitete die Arme aus, »gnädige Frau!« sagte er zu der vom Nebenstuhl zu ihm hochblickenden Ehefrau des Kollegen Uhl, »es ist soweit«, er lachte sie an, »Ihnen einen wunderschönen Abend noch zu wünschen, tschüß!«, wobei er die letzten Worte, nach einer Drehung, schon im Abgehen gesagt hatte, im Rausgehen einige Bekannte grüßte, »gehst du schon?« wurde er gefragt, und er nickte nur und winkte, obwohl er auch jedem dieser Bekannten, Freunde und Kollegen ganz direkt und höchstpersönlich die Existenzwahrheit, die ihn auf den Punkt brachte, ins Gesicht gesagt haben könnte: Ehre, Geiz, Geld, Ruhm, oder: Faulheit, Streber, Dummkopf, Intrigant.
    Aber das war ASSPERG , die Firma, das war bekannt, das wusste jeder von jedem, was für ein Typ Loser der jeweils andere war, weshalb er auch nicht richtig ernst genommen werden konnte, eigentlich nur zu verachten war. Diese generalisierte, alle Chefs verbindende, die Über-, Unter- und Mittelchefs einende Verachtung füreinander hatte Holtrop schon mit Anfang zwanzig, vor über fünfundzwanzig Jahren, bei seinem ersten betriebswirtschaftlichen Praktikum in der Firma seines Vaters beobachtet. Später hatte er die Verachtung als Basis einer korrupten Kollegialität der Führenden verstanden, die sich gerade in ihrer gegenseitigen Verachtung gegenseitig tolerieren konnten. Mir doch egal, dachte und sagte jeder über jeden,was die Null, der Typ neben mir, plant, vermeldet oder beabsichtigt, es wird ja sowieso nichts, der kann es nicht, dachte jeder über jeden.
    Holtrops Vater war nach Ansicht seines Sohns kein wirklich guter Chef gewesen. Er merkte nicht, wie schlecht die Gruppe seiner Mitarbeiter funktionierte, in der alle gegeneinander arbeiteten und jeder nur für sich selbst anstatt für ihn als Chef oder für die gemeinsame Sache der Firma als Ganzes zumindest. Natürlich hätte es der Vater nicht ungern gesehen, wenn sein Sohn, er war der Älteste, es gab noch drei jüngere Töchter, die mittelgroße Firma, die Kartons herstellte und Verpackungen bedruckte, übernommen hätte, wie es der Tradition der Familie entsprach. Aber das kam für Holtrop nicht in Frage. Der ineffektive Führungsstil seines Vaters, der impulsiv intuitiv war, diffus menschenfreundlich, aber oft auch fürchterlich erratisch, hatte Holtrops theoretische Neugier geweckt. Wie funktioniert ein Unternehmen? Wie führt man eine Firma? Als Jugendlicher hatte er eine Zeit davon geträumt, Schriftsteller zu werden. Aber nach dem Abitur und dem Wehrdienst bei der
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