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Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders
Autoren: Franz Kabelka
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kann er, darauf versteht er sich wie kein anderer.
    Sie hasst den Staat dafür, dass er einen wie ihn in Frühpension gehen lässt, wegen angeblichem Burnout. Welch ein Witz! Wenn hier jemand Gefahr läuft auszubrennen, dann ist sie es.
    Nichts kann man ihm recht machen. Am meisten liebt er das Schimpfen, vorzugsweise über die Quatschsucht der Frauen. Außer dem Ja eh findet sich in seinem Wortschatz noch ein zerkautes Genau , ein Weißt , dem es an jeglichem Schwung mangelt, und ein teilnahmsloses Verstehe . Und das sind schon die Rosinen im Germschober seiner Existenz!
    Wann hat sie ihm eigentlich zum letzten Mal einen echten Schober gebacken?
    Sie schiebt die Gedanken an ihn beiseite und konzentriert sich auf die Spinne, die bewegungslos in ihrem Netz hockt und geduldig lauert, rechts oben in der Ecke über dem Fernseher. Jedes Mal, bevor Adele die Kiste ein- oder ausschaltet, schaut sie ihrer Spinne eine Weile zu beim Lauern. Andächtig fast, voller Zuneigung.
    Wie sie sich, langsam, ganz langsam, eine eingesponnene Fliege angelt, um sie genüsslich zu verspeisen.
    Sie redet mit ihr wie mit einer alten Vertrauten: Weißt du eigentlich, was du mir zu verdanken hast? Du lebst von meinen Gnaden, du überlebst nur deshalb, weil ich deine Gönnerin bin, weil ich deine Welt vor dem Staubsauger bewahre. Dein Glück, dass ich mich verändert habe. Bis vor zwei Jahren hätte ich dich ohne zu zögern weggeputzt, dich und dein Netzwerk. So ordentlich, wie ich war. Gegraust hätte es mich vor dir, geekelt! Jetzt nicht mehr. Jetzt ekelt es mich nur noch vor einem: vor dem Ja eh -Mann. Vor seinen Berührungen. Wenn er bloß anstreift an mir, kriege ich ein Brandmal an der Stelle.
    Kein Tier kann so giftig sein wie er.
    *
    Wann er wohl das letzte Mal mit ihr geschlafen hat? Vier, fünf Jahre wird es schon her sein. Sie küssen sich ja nicht einmal mehr. Ein Busserl, dieses letzte Relikt eines Kusses, gibt es auch nur noch alle heiligen Zeiten, und wenn, dann mit spitzen Lippen und nur, um ihn entlarven zu können. Denn natürlich riecht sie, dass er wieder geraucht hat, entgegen all seinen Versprechungen. Sie ist ein verdammter Polizist, ein Spurensicherer, der mit seinem Pinsel Unsichtbares sichtbar macht. Wie ein Judaskuss, so ein Scheiß Judaskuss. Er beneidet ihn, den langhaarigen blonden Juden auf dem Kreuz. Den sie zwar nach allen Regeln der Kunst gefoltert haben, der diese Kussprozedur aber wenigstens nur ein einziges Mal über sich ergehen lassen musste.
    Sein Anteil an demGanzen: dass er ihr zu viel Macht eingeräumt hat über all die Jahre, das rächt sich jetzt. Sie rächt sich jetzt. Oft muss er an diesen Typ denken, den mit dem Locked-in-Syndrom, seinen Namen hat er vergessen, dessen Autobiographie vor ein paar Jahren verfilmt wurde. Wie oft musste er zwinkern, dass ein Buch daraus wurde, ein dickes Buch sogar? Kurz danach ist er gestorben, seine Kraft war aufgebraucht. Einen wie ihn kannst du nur bewundern. Nicht, weil er seine Leidensgeschichte der Nachwelt hinterlassen hat auf diese aufwendige Art, sondern weil er sich mit seinem Zwinkern gewehrt hat gegen das Eingesperrtsein, gegen das Weggesperrtsein. Und er? Was hat er ihrem berechnenden spitzen Küsschen entgegenzusetzen? Nichts. Keinen einzigen Wimpernschlag.
    *
    Eine Trennung auf Probe. Wenigstens das. Wenn es die Ehe auf Probe gibt, wieso nicht auch ihr Gegenstück? Wieso traut sie es sich nicht zu?
    Haben wir uns einmal geliebt? Oder war von vorneherein alles falsch gewickelt, verlogen? Immer wieder fragt sie sich das vor dem Einschlafen. Aber wir müssen uns doch einmal geliebt haben! Je öfter man sich etwas vorsagt, umso eher glaubt man daran, heißt es. Sehr groß kann ihr Glaube demnach nicht sein. Berührt haben sie sich auch früher kaum einmal, erst recht nicht vor den Kindern, als die in die Pubertät kamen. Wer will schon vor den eigenen Kindern dastehen wie zwei alte Idioten, die so tun, als wären sie junge Idioten. Die Kommentare der vierzehnjährigen Maria und des sechzehnjährigen Peter hat sie noch im Ohr. Diesbezüglich herrschte unter den sonst ständig zankenden Geschwistern Einigkeit. Pubertierende finden es halt peinlich bis grauslich, wenn ihre fünfzigjährigen Eltern neben ihnen Zärtlichkeiten austauschen. Oder, schlimmer noch, wenn sie herumturteln. Das ist dann urpeinlich . Diese Peinlichkeit kann man ihnen ersparen. Und sich selbst erspart man auch etwas dabei: die Heuchelei.
    Die Kinder sind längst aus dem Haus, geändert
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