Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
und würde ihn wohl bald vom Morddezernat zur uniformierten Polizei versetzen und wieder als Schutzmann Runden drehen lassen. Jury war ihm in dieser Hinsicht jedoch weit voraus oder hinkte weit hinter ihm her. Er wunderte sich selbst über seinen Mangel an Ehrgeiz und fühlte sich dabei ein wenig schuldig. In die Stellung des Superintendent hatte man ihn beinahe prügeln müssen. Vielleicht lag es an der Jahreszeit. Weihnachten war nie ein Grund zum Fröhlichsein gewesen, abgesehen von ein oder zwei Festen, die zwar gut begonnen, aber katastrophal geendet hatten. Vielleicht lag es aber auch am Wetter. Jury sah zu, wie der Schnee in großen, federigen Flocken herunterwehte, die nicht liegenblieben und sich bis zum Abend in grauen Matsch verwandeln und schmelzen würden. Er erinnerte sich an die beiden Jungen, vierzehn und fünfzehn waren sie gewesen, die er vor zwanzig Jahren beim Klauen in einem Süßwarenladen erwischt hatte. Sehr blaß und unsicher waren sie gewesen und hatten ihn an sich selber ein Dutzend Jahre zuvor erinnert. Er war sogar noch jünger als sie gewesen, als der Besitzer eines ähnlichen Ladens ihn beim Hinausgehen erwischt hatte, weil die kleine Schachtel Black Magic-Pralinen sich als Beule unter seinem Anorak abzeichnete. Jener Ladenbesitzer hatte verständnisvoller reagiert als der bei ihm, der sofort die Polizei rief. Ein Exempel statuieren . Die Tante, die Richard gerade bei sich aufgenommen hatte, schämte sich zu Tode.
    Ivy hieß damals das Mädchen, fiel ihm plötzlich ein. Ivy wollte er die Pralinen zu Weihnachten schenken. Doch auch diese Sentimentalität hatte nicht bewirkt, daß sich die verkniffenen Lippen der Tante entspannten. Sein Onkel war ein sanfter Mensch gewesen, der Nachsicht walten ließ, vor allem bei einem Neffen, dessen Eltern im Krieg ums Leben gekommen waren. Doch dann die Enttäuschung des Onkels. Der sorgenvolle Blick, den er auf den Knaben Richard warf, war schwerer zu ertragen gewesen als Schläge.
    Aber es ging ja nicht mehr ums Stehlen von Süßigkeiten, dachte er mit einem geradezu überwältigenden Bedauern, während das blasse Gesicht des hübschen, auf der Straße liegenden Mädchens wieder vor seinem inneren Auge auftauchte. Ivy. Ihr Name war wohl der Grund, daß ihm das jetzt alles wieder durch den Kopf ging.
    «… Jury! Könnten Sie vielleicht mal kurz aufhören zu träumen und meine Frage beantworten?»
    «Entschuldigung.»
    «Ich hatte gefragt, ob Phyllis Nancy schon die Autopsie gemacht hat.»
    «Nein, noch nicht. Morgen früh.»
    «Worauf wartet sie denn noch, verdammt noch mal, auf ihre Zulassung?» Racer schlug noch einmal klatschend den obersten Aktendeckel auf. «Wir wissen über diese Childess also lediglich, daß sie in Bayswater wohnte, sich mit ihrem Freund in diesem Pub beim Berkeley Square gestritten hat, und daß er sie dort stehenließ.» Er klappte die Akte zu und lehnte sich zurück. «Alles das wußten Sie auch schon gestern abend, Jury.»
    «Dann sollte ich doch vielleicht sehen, daß ich weiterkomme. Sonst noch etwas?» Er streckte vorsichtig seine Gliedmaßen gerade und stand, den Blick auf das Sofa gerichtet, auf.
    «Schön, falls Sie wirklich was herauskriegen sollten, alter Knabe, lassen Sie es mich doch bitte wissen!»
    «Aber gerne.» Jury beäugte den kleinen Turm von Geschenken und wandte sich zum Gehen. Als er die Tür erreichte, hörte er es – sie: die Schachteln, die wie ein Kartenhaus zusammenstürzten, den herausfallenden Inhalt, die Stimme Racers, der den Kater Cyril anbrüllte, die Sprechanlage und wieder Racer, der Fiona anschrie.
    Jury öffnete ruhig die Tür, und Cyril flitzte nach erneut erfolgreicher Durchführung eines Schlachtplans vor ihm hinaus.
     
    «Jetzt kocht er so richtig», sagte Fiona, die sich die Nägel feilte, ohne sich von der Sprechanlage stören zu lassen. Cyril war gerade hinter ihr aufs Fensterbrett gesprungen, um Katzenwäsche zu machen, als das Telefon klingelte.
    Fiona nahm den Hörer ab, sagte etwas und hielt ihn dann Jury hin. Der schwarze Hörer sah aus wie eine Verlängerung ihrer dunkellackierten Nägel. Er tropfte geradezu von ihrer Hand herunter. «Al.»
    Jury nahm den Hörer und fragte sich, ob wohl irgend jemand im Präsidium außer Fiona Sergeant Wiggins beim Vornamen nannte. «Wiggins?»
    Wiggins sprach näselnd, aber deutlich. «Ich habe etwas gefunden, Sir. Ich habe das gerade im Computerraum nachgeprüft …» Die Pause war nicht als dramatischer Effekt gedacht, sondern
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher