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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen
Autoren: Martha Grimes
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schwappende Whiskywelle entstand.
    «Könnten Sie das vielleicht ein wenig präziser sagen?» fragte Jury milde, da er sich ziemlich sicher war, daß die widerliche Gleichgültigkeit des Mannes angesichts der Ermordung des Mädchens zum großen Teil Fassade war. Dahinter verbarg sich Angst, aber wie groß die war, wußte Jury nicht.
    Er schloß die Augen. «Vielleicht kurz nach elf. Nehmen Sie es mir nicht übel, Superintendent. Marion weiß es sicher besser. Sie war nüchtern. Ist sie leider immer. Sie heißt Winslow, und sie haben ein Haus in Sussex, in Somers Abbas. Ich bitte Sie, Superintendent, können Sie die gute Marion nicht aus der Sache heraushalten?»
    «Sie möchten, daß ich diskret vorgehe?»
    Marrs klarer, großäugiger Blick in seinem hübschen Gesicht machte den Eindruck, als käme er gerade vom See herein, wo er mit einem Haufen Kätzchen rumgespielt hatte. Er wirkte wundervoll unschuldig und gleichzeitig durchtrieben. «O ja, würden Sie das tun? Ich käme Ihnen auch in jeder Hinsicht entgegen. Sie können mich stundenlang verhören …»
    «Das würde ich sowieso tun.»
    «Sie wollen mir nicht entgegenkommen, das sehe ich schon. Ich habe eine Reservierung für nächsten Dienstag nach Cannes, aber ich nehme an, daß ich das Land jetzt nicht verlassen darf. Eine Zigarette?» Er sah auf Jurys Schachtel.
    Jury warf sie ihm zu.
    «Ich vermute, Sie riefen Mrs. Winslow an, weil Sie unbedingt Ihren Schneider bezahlen mußten, aber sie wollte nicht, stimmt’s?»
    «Sehr scharfsinnig! Na ja, ich war schließlich sturzbetrunken.»
    «Oh!»
    Marr betrachtete ihn durch die kleine Rauchspirale.
    «‹Oh!› Was soll das denn heißen? Sie sind ja schlimmer als Marion.»
    «Nichts.»
    «Natürlich nicht. Na schön, schließlich ist jede Menge Geld da. Und wenn ich diese Bestimmung auch mindestens einmal pro Tag verfluche, so war unser Vater wohl doch cleverer, als ich ihm zugetraut hätte, als er es meinem Zugriff entzog. Den Großteil meines Erbes bekomme ich erst, wenn ich heirate.» Er klang wehmütig und fügte hinzu: «Ist das vielleicht ein Motiv für einen Mord?»
    «Im Gegenteil, würde ich sagen.»
    «Fein. Lassen wir’s dabei. Wie es nun mal steht, darf ich nur viermal im Jahr in die Familienschatzkiste greifen. Dummerweise dauert dieses Vierteljahr noch bis zum 31. Dezember.» Er blickte auf einen Kalender, der auf einer Pinnwand über einem schönen lackierten Schreibtisch angebracht war. Jury sah, daß Fotos, Ansichtskarten und alle möglichen anderen Erinnerungsstücke an ihr hingen. «Könnte ich mal einen Blick darauf werfen?»
    «Hm. Doch, klar. Ich muß mich nur mal ein bißchen hinlegen.» Er ließ den Kopf auf die Lehne sinken und rollte sich das Whiskyglas über die Stirn.
    Jury sah mit einem Lächeln, daß das Pinnbrett ziemlich viel Ähnlichkeit mit der sorgfältig ausgewählten Kitschsammlung eines Studenten hatte oder dem Krimskrams, den ein Teenager wie einen Schatz in einem Schuhkarton hortete: bunte und witzlose Ansichtskarten, wie Leute sie gern aus ihren Ferien in Cornwall, von der Riviera, aus Monte Carlo, Las Vegas und Cannes schicken.
    «Schon mal in Amerika gewesen?»
    David drehte sich zur Pinnwand herum. «Nein.»
    «Dann haben Sie Freunde dort, oder?» Er wies mit einem Kopfnicken auf die Karte mit einem Casino in Las Vegas.
    «Nein. Ein, zwei Bekannte. Meine Freunde fahren nach Monte oder Cannes, Superintendent.»
    Jury lächelte. «Tut mir leid. Wußte nicht, daß es da so große Unterschiede gibt.» Er konzentrierte sich wieder auf das Brett. Eine Speisekarte vom Rules, ein silberfarbenes Strumpfband, hier und da Zettel mit Telefonnummern. Jury interessierte sich mehr für die Schnappschüsse. «Ist das Ihre Schwester?»
    David zuckte zusammen und drehte den Kopf zu ihm herum. «Ja, und die restliche Familie. Das ist mein Neffe und der Mann meiner Schwester, Hugh.»
    Das Foto war im Garten aufgenommen. Sie wirkten alle sehr angetan von sich, so als seien sie ganz begeistert darüber, sich getroffen zu haben und fotografiert zu werden.
    Ein weiterer Schnappschuß zeigte David Marr mit demselben jungen Mann. Beide lachten und hielten etwas in Händen, was nach Tennisschlägern aussah. Es gab kein Foto, auf dem Marr allein und auch keines, auf dem er mit Ivy Childess zu sehen war.
    «Haben Sie was dagegen, wenn ich mir diese zwei mal ausleihe?»
    David wollte gerade eine weitere Zigarette von Jury schnorren. «Was? Nein, nichts dagegen. Aber sorgen Sie bitte dafür, daß ich
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