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In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)

In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)

Titel: In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
Autoren: Ales Pickar
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keine Luft«, meinte Jirka.
    Auch ich hatte diese Geschichte gehört. Am Ende langer Gänge reicht die Luft zum Atmen nicht mehr aus.
    »Unsinn«, erwiderte Standa.
    »Aber wenn doch...«
    »Die Luft wird nicht gleich weg sein«, äußerte sich Milan, der letztes Weihnachten einen Chemiekasten bekommen hatte. »Sie wird erst langsam immer weniger.«
    »Ich glaube, dein Hund frisst hier gerade eine tote Ratte«, meinte Emil, den wir wegen seiner großen, lupenartigen Brille Brejlarito nannten. Jirka herrschte sogleich den vierbeinigen Gourmet an und suchte ihn dabei hektisch mit seiner Taschenlampe zwischen den Füßen der Jungs.
    »Nero! Lass das! Igitt! Nero!«
    »Mein Vater spaziert hier ständig. Von fehlender Luft hat er noch nie erzählt«, konstatierte ich selbstbewusst und machte mich auf, weiterzugehen.
    Die anderen zögerten und schienen vor der dunklen Biegung Respekt zu haben. Während ich mich entfernte, verfolgte die Gruppe jeden meiner Schritte mit einem Geflecht aus Lichtkegeln. Bald war ich um die Ecke verschwunden und meldete alle paar Sekunden meinen Zustand. Aus der Ferne hörte ich Neros Bellen. Ich fühlte mich großartig. Ich fühlte mich wie einer meiner Helden, über die ich in Abenteuerbüchern las. Biggles und Bertie. Ginger und Algy. Professor Lidenbrock und sein Neffe Axel. Es war der Rausch des Neulands. Es waren die letzten Tage der Unschuld im Leben eines Zehnjährigen.
    »Komm zurück, Jarek!« riefen mir alle zu.
    Ich hieß natürlich nicht Jarek, sondern Jan-Marek, doch die Tschechen neigen dazu alles nur Erdenkliche abzukürzen und zu verballhornen. So nannte mich in der Schule jeder Jarek. Sogar die Lehrer ließen sich davon anstecken. Als unsere Familie dann in den Westen floh, war es damit vorbei. Es kam mir vor, als wäre Jarek in Prag geblieben, während Jan-Marek nach Deutschland ging.
    In der Dunkelheit des Tunnels begriff ich, dass meine Freunde Angst um mich hatten und gab nach. Ich verzog genervt meine Mundwinkel, verdrehte die Augen und kehrte zu ihnen zurück.
    Wir traten den Rückmarsch an und stiegen einige Minuten später zurück in die gleißende Welt des Sommers. Während wir oben lachend und tollend über unsere Erlebnisse sprachen, stellte ich eine leise Stimme in mir fest. Die Stimme der Unzufriedenheit.

1.02 Remota

    Ich greife vor, wenn ich erwähne, dass eine wichtige Erkenntnis in meinem Leben darin bestand, den Zusammenhang zwischen mir und dem Untergrund zu begreifen. Wann immer ich unter die Erde trat, herabstieg aus der Geborgenheit der Eloi in die Welt der Morlocks , geschah ein Unglück. War nun ich die Ursache dieser Ereignisse, oder war ich auserwählt, nur dann herabzusteigen, wenn ein Unglück bereitstand?
    Im Herbst 1998 — über fünfzehn Jahre nach meinem nächtlichen Ausflug in die Kanalisation von Prag — befand ich mich erneut in bedenklicher Nähe zu jener feuchten, modrigen Dunkelheit, an einem beschissenen Ort, an dem ich nichts verloren hatte. Warum bin ich nur so verführbar? Als Kind spielte ich gerne in allerlei Rohren und Kanälen und träumte von der Gefahr, aber nun? Irgendwann sollte es doch genug sein. Irgendwann muss man doch beginnen, sich wie ein Erwachsener zu benehmen!
    Ein endloser Gang unter der Stadt, überall große kalte Pfützen, in denen sich das herabtropfende Wasser sammelte. Und... schon wieder ich! Dummkopf! Draußen war kalter Oktober und hier drin roch es wie immer nach feuchtem Zement. Ich gab mir kopfschüttelnd immer noch Mühe, meine 250-Mark-Salamander-Schuhe aus diesem Ärger raus zu halten und an den großen Pfützen wie ein Storch vorbeizugrätschen. Sinnlos...
    Manzio hingegen betrieb die Sache mit dem ihm so eigenen Enthusiasmus. »Komm schon, stell dich nicht so an. Es sind nur noch paar Meter.« Etwas in der Art raunte er mir mit halbleiser, konspirativer Stimme ständig zu. Mir kam der Weg übertrieben lang vor. Ich bemerkte, dass es hier kleine schwarze Drehschalter fürs Licht gab, wie sie in Kellern unter Mietshäusern eben vorkommen. Weiß Gott, warum Manzio darauf bestand, dass wir sie nicht benutzten und stattdessen mit den Taschenlampen herumfuchtelten.
    Ich leuchtete auf meine Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Mist. Was tat ich hier? Doch ich hatte keine treffende Ausrede. Noch vor wenigen Monaten hätte ich gejammert, dass ich am nächsten Tag früh aufstehen muss. Dass mein kalter Bürostuhl auf mich wartete, damit ich darauf optimistisch in die Welt lächeln konnte, während einige
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