Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen
Autoren: A. Leuning
Vom Netzwerk:
sollte es einfach so sein, dass ...“
    „Dass die heiße Karosserie der Maschine mir das Bein abriss, während der Bus Marcs Schädel wegtrümmerte und seinen Körper zermalmte?“
    Josefine fiel ihm nicht ins Wort, und er war dankbar dafür, auch wenn es ihn innerlich fast zerriss, über den Unfall zu reden. Aber immerhin redete er jetzt, was besser war als das Schreien und Wimmern der letzten Jahre. Das Wissen darum, dass von dem edlen Körper, den er einst angebetet hatte, nicht mehr als ein Fleischklumpen übrig geblieben war, hatte ihm in den ersten zwei Jahren jede Chance genommen, seine so drangvolle Sexualität auch nur ansatzweise ausleben zu können.
    Er stützte den Kopf in die Hände.
    „Warum hat es nicht andersherum sein können, Fine? Warum konnte ich nicht an seiner Stelle ...“
    „Tot sein?“, unterbrach sie ihn nun doch, aber es lag kein Entsetzen in ihrer Stimme.
    Sie sahen sich an, beide voller Schmerz um den anderen und das, was sie beide durchmachen mussten, aber auch voller Liebe und Dankbarkeit dafür, dass der andere da war. Josefine legte Johannes die Hand auf das linke Bein. Er wollte zurückzucken, ließ es dann aber geschehen.
    „Hannes, ich weiß nicht, warum es so gelaufen ist, wie es kam. Wären wir jetzt in einem Hollywoodfilm, würde ich sagen: ‚Du bist zurückgelassen worden, weil du noch etwas zu erledigen hast.’ Und wenn ich ehrlich bin, kann ich nicht glauben, dass das Leben für dich nur eine betrogene Liebe, ein halbes Bein und einen Kassiererjob im Supermarkt bereithalten sollte. Ich weiß nicht, wo dein Weg jetzt langgeht, aber vielleicht wird es langsam Zeit, dass du endlich selbst die Augen aufmachst und danach suchst.“
    Johannes schüttelte verzweifelt den Kopf.
    „Ich wüsste nicht, wo ich anfangen soll, Fine.“
    Ihr Gesicht nahm einen bestimmten Ausdruck an, ihre Stimme klang überzeugt. „Dort, wo der Faden abgerissen ist, Hannes. Geh zurück nach Irland. Folge noch einmal eurer Spur, geh an den Ort, wo es passiert ist und versuche, Marc dort zu finden - und lass ihn dann dort zurück. Versuche es zu schaffen, Hannes, egal wie. Sonst verlierst du bald auch noch dich selbst in diesem Chaos.“
    Johannes dachte an Irland. An die Steilküste. An den Leuchtturm und das wunderbar sattgrüne Grasbett, an den unheimlich blauen Ozean, dessen Weite sich so wunderbar in Marcs blauen Augen gespiegelt hatte. Er fürchtete sich davor, die Bilder der Erinnerung in sich heraufzubeschwören, doch noch größer wog die Angst, das alles wiedersehen zu müssen - allein.
    „Du kannst es dir ja überlegen, gib deiner Entscheidung Zeit“, hörte er seine Schwester in die Vision hineinsprechen. „Und was das Finanzielle angeht - ich steuere dir bei, was ich kann, das weißt du ja. So, und nun komm. Zeit fürs Mittagessen.“ Sie stand auf. „Mal sehen, wie ich Miri jetzt von ihrer Sandburg wegkriege. Gleich gibt es ein Mordsgeschrei, pass auf ...“
    Tatsächlich schien nicht einmal die Aussicht auf Mamas leckerste Kartoffelsuppe der Welt die Kleine zur Heimkehr bewegen zu können. Johannes lächelte versonnen.
       
     
    Nach einer kleinen Ewigkeit brachte die Bedienung uns zwei große Tassen dampfend heißer Suppe, mehrere Scheiben warmen, wunderbar weichen Brots und einen Teller voll gesalzener Butter, an deren Geschmack sich mein Gaumen schon so sehr gewöhnt hatte, dass ich mich fragte, ob ich daheim in Deutschland nicht auch darauf umsteigen sollte. Paul warf mir ein dünnes Lächeln zu, bevor er seinen Löffel in die Suppe tauchte. Er war leichenblass, seine Hand zitterte unübersehbar. Die Nacht hatte ihm mehr zugesetzt, als wir beide uns eingestehen wollten, und nach einem kleinen Frühstück in unserer Pension hatte er rasch zum Aufbruch gedrängt. Trotz seiner Erschöpfung hatte er mich nicht fahren lassen wollen, und nun saßen wir hier irgendwo auf halbem Wege zwischen der West- und Ostküste in irgendeinem Pub mit knallig orange gestrichenen Wänden, die spärlich mit Kunstdrucken dekoriert waren, lauschten dem überlauten Summen des Kühlschrankes und versuchten, jeder auf seine Weise, Abschied zu nehmen: von diesem Ort, dem Gestern, voneinander.
    Mein Flug ging morgen, mein Urlaub war aufgebraucht, und ich konnte es mir nicht leisten, meinen Job für ein paar Tage Flirtverlängerung zu riskieren. Paul wusste es, und er verstand es. Aber er verkraftete es nicht, das sah ich ihm an. Wie ich aussah, wollte ich lieber nicht wissen - ich hatte jeden noch so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher