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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst
Autoren: Marcus Sarkey
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zurückgeworfen von der Glasfront des benachbarten Wolkenkratzers. Das Meeting um halb zehn fiel ihm ein, das er unweigerlich verpassen würde, und die Seufzer der anderen klangen ihm schon in den Ohren. Er versuchte abzuschätzen, wie viele E-Mails wohl auf ihn warten würden, wenn er es endlich in die Arbeit schaffte.
    IVF. In-Vitro-Fertilisation.
    Das schwache Licht, das sich an den Vorhängen vorbeizwängte, glänzte silbern. Die Uhr zeigte 4:12. Es gab wenig gute Gründe, um Viertel nach vier wach zu sein. Klar, mit Mitte zwanzig war das was anderes gewesen: Samstagabend, er und Anna und die alte Truppe, leuchtende Kerzen, das Bier längst alle, Leonard Cohen auf dem Plattenspieler, ein letzter Joint macht die Runde, während die anderen nach und nach aneinandersinken und einschlafen, auf den alten Sofas vom Flohmarkt. In Toms Jugend hatte Viertel nach vier noch einen Sinn ergeben.
    Mit fünfunddreißig war Viertel nach vier ein Moment, den man lieber verschlafen sollte. Nur aus einem einzigen Grund konnten Leute seines Alters dazu tendieren, um Viertel nach vier wach zu sein.
    WZ. Wartezeit. Zwei Wochen, die heute endeten.
     
    Anna spürte, wie das Bett nachgab, als Tom sich auf die andere Seite rollte. Es knarrte leise, während er das Gesicht im Kissen vergrub und ein schwaches Stöhnen ausstieß. Wie konnte er jetzt nur schlafen? Ihre Gedanken waren laut genug, um den aufgenommenen Regen zu übertönen – Anna war erstaunt, dass er sie nicht hören konnte, dass er nicht antwortete, als ob sie laut gesprochen hätte.
    Das ist es. Dieses Mal ist es so weit.
    Ich werde Mutter sein.
    Bitte, Gott, mach, dass es so weit ist.
    Aber…
    Diese Krämpfe kommen mir bekannt vor, schrecklich bekannt.
    Bitte nicht PMS, bitte.
    Ich schaff das nicht nochmal.
     
    Das Schlimmste an IVF war, dass sie unbestreitbar schwanger war. Die Eizellen, die sie aus ihr gewonnen hatten, waren mit Toms Spermien kombiniert worden. Bei diesem letzten Zyklus hatten sie sogar auf intrazytoplasmatische Spermieninjektion zurückgegriffen, also ein einzelnes Spermium in jede Eizelle injiziert. Von den fünf Eizellen, die sie geerntet hatten, waren drei erfolgreich befruchtet worden. Drei mikroskopisch kleine Embryos. Drei Babys.
    Da sie sich schon im vierten IVF-Zyklus befanden, hatten die Ärzte alle drei transferiert. Anna war also nicht einfach schwanger, sondern gleich dreifach schwanger. Echte Babys lebten in ihr. Aber sie würden nur am Leben bleiben, wenn sie sich in ihre Gebärmutter einnisteten.
    Falls sie starben, war es ihre Schuld.
    Hör auf , dachte sie, doch die Reaktion war selbst schon zum Mantra geworden. Eigentlich wusste sie ja, dass es nichts mit Schuld zu tun hatte. Schließlich hatte sie wirklich alles versucht: die speziellen Diäten, die Übungen, die Stellungen nach dem Sex, die Vitamine, die Hormone, die Gebete. Nichts davon beeindruckte die Stimme in ihrem Kopf, die immer weiterflüsterte, dass es für keine andere Frau der Welt ein Problem war, dass es die einfachste, grundlegendste Sache überhaupt war, dass man genauso gut beim Atmen versagen konnte, wenn man dabei versagte. Frauen wurden schwanger und bekamen Kinder. Dadurch wurden sie erst zu richtigen Frauen.
    Hör auf! Dieses Mal ist es so weit. Du wirst Mutter sein.
    Bitte, Gott, mach, dass es endlich so weit ist.
     
    Um kurz nach sechs gab er auf. Tom schlich über den knarrenden Fußboden zum Bad und schaltete WBEZ ein, während die Dusche warmlief: Neuigkeiten vom Krieg, vom Prozess gegen den CEO eines Telekommunikationsgiganten, eine Vorschau auf Eight Forty-Eight – Steve Edwards kündigte an, über die neuesten Steuerpläne des Gouverneurs zu berichten und einen Dichter aus der Gegend zu interviewen. Alles wie immer, die vertrauten Geräusche aus den vertrauten, blechernen Lautsprechern, das stockend sprudelnde Wasser, der leicht saure Geschmack ungeputzter Zähne.
    Aber heute könnte der letzte Tag deines bisherigen Lebens sein. Mit einem Lächeln auf den Lippen rieb Tom sich das Shampoo ins Haar.
    Nach dem Duschen rubbelte er sich schnell ab und schlug sich das Handtuch um die Hüfte. Anna lag noch immer im Bett. Auf dem Rücken, das Laken bis zum Kinn gezogen, die Hände auf dem Bauch, starrte sie auf den bewegungslosen Ventilator an der Decke.
    »Wie fühlst du dich?«, fragte er.
    »Dick.«
    Tom lachte. »Dick ist gut, oder?«
    »Ich glaub schon.« Sie schob die Laken beiseite und setzte sich halb auf, sank aber gleich wieder mit einem Ächzen
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