Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
riesige Würgeschlange ganz nah am Bau vorbeikriecht– hin- und hergerissen zwischen dem Drang, so schnell wie möglich zu fliehen, und dem Instinkt, in absoluter Bewegungslosigkeit darauf zu hoffen, nicht entdeckt zu werden.
Bei einem vorbeischleichenden Fuchs funktioniert die Taktik mit der Starre sogar hin und wieder. Nicht aber bei einer Schlange. Die orientiert sich nämlich hauptsächlich über ihren Geruchssinn.
Sie kann die Angst ihrer Beute förmlich auf der Zunge schmecken.
So, wie Inga Jäger jetzt gerade die Angst ihrer Sekretärin schmecken konnte– wenn auch in übertragenem Sinne.
Durch zahlreiche Seminare zu Kommunikation, Rhetorik und Verhörtechniken war Inga Jäger meisterhaft darin geschult, Menschen zu lesen anhand ihrer Körperhaltung, Mimik und anderen optischen und nichtoptischen Signalen. Darüber hinaus hatte sie sich dort auch die Fähigkeit antrainiert, während einer Konversation so lange zu schweigen, bis sich ihr Gegenüber früher oder später dazu gezwungen sah, irgendetwas zu sagen, um die erdrückende Stille zu unterbrechen. Ebenso, wie sie darin geschult war, ihr Gegenüber eine kleine Ewigkeit lang mit den Augen zu fixieren, ohne dass es ihr unangenehm wurde und sie selbst den Blick abwenden musste.
Der Trick bestand darin, dem Gegenüber nicht wirklich in die Augen zu schauen, sondern auf eine Stelle genau dazwischen– auf die Nasenwurzel– und dabei im Innern stumm irgendein Liedchen zu summen. Inga Jägers Liedchen war Frère Jacques, ein französisches Kinderlied, das sich deswegen besonders gut eignete, weil sich die einfache Melodie andauernd wiederholte und damit eine ganz eigene meditative Wirkung hatte, die dafür sorgte, dass sie sich damit nicht selbst zu sehr von dem eigentlichen Thema des angestrebten Gespräches ablenkte.
Sie konnte jetzt an den Veränderungen von Mimik und Körperhaltung erkennen, wie Rike Wiedemann mit jedem einzelnen, absichtlich flach gehaltenen Atemzug unter ihrem Blick förmlich einknickte. Während sie sich Mühe gab, den Mund unter Kontrolle und locker geschlossen zu halten, begannen ihre Nasenflügel ganz leicht zu beben, und die Augenbrauen zogen sich zusammen in dem Versuch, ernst und doch gleichzeitig offen zu blicken.
Schließlich kam es, wie es kommen musste, und die Sekretärin runzelte die Stirn und fragte mit angestrengt lässigem Ton: » Was kann ich für Sie tun, Frau Jäger?«
» Meine Frage beantworten«, erwiderte Inga Jäger knapp. » Das können Sie für mich tun.«
» Ihre Frage?«
» Meine Frage.«
Wieder entstand eine Pause. Diesmal nur eine kurze.
» Wie war die Frage noch gleich?«
» Ehe ich die wiederhole, wiederhole ich den ersten Teil meines Satzes«, sagte Inga Jäger kühl. » Und an den erinnern Sie sich ganz gewiss, nicht wahr?«
Rike Wiedemann zögerte für zwei Sekunden… und nickte dann.
» Also?«
» Ja, ich sehe das ähnlich.«
» Was sehen Sie ähnlich?«
Die Kiefer der Sekretärin verkrampften, und sie sagte mit fest zusammengebissenen Zähnen: » Dass Sie sind gefeuert ein Satz ist, den keiner gern hört.«
» Ich bin froh, dass wir uns da einig sind«, sagte Inga Jäger betont freundlich. » Ich würde es nämlich als äußerst mühselig empfinden, mir gleich zu Dienstbeginn eine neue Sekretärin suchen zu müssen, Frau Wiedemann.«
» Eine neue…?«
» Ja, eine neue Sekretärin. Sie haben richtig gehört, Frau Wiedemann. Eine Person, die gewillt ist, mich in meiner Arbeit nach ganzen Kräften zu unterstützen, statt mich bei der ersten Gelegenheit, die sich ihr bietet, direkt ins Messer laufen zu lassen.«
» Ich verstehe wirklich nicht, worauf Sie hinauswollen, Frau Jäger«, sagte Rike Wiedemann und strich sich unsicher eine vor Haarspray starre Strähne hinters Ohr.
» Dann ändern Sie das«, sagte Inga Jäger. » Denn von einer guten Sekretärin erwarte ich, dass sie sich darum bemüht, zu verstehen, was ich will. Ganz zu schweigen davon, dass Sie in diesem Moment in Wahrheit ganz genau wissen, worauf ich gerade hinauswill.«
Rike Wiedemann schnappte nach Luft, um sich gekünstelt zu echauffieren.
Darauf hatte Inga Jäger nun wirklich keine Lust und fuhr fort: » Es ist hier im Amt viel allgemeiner bekannt, als Sie wahrhaben wollen, dass Sie mit meinem Vorgänger ein Verhältnis hatten und dass Sie sicher waren, dass er Sie bei seiner Beförderung ins Landesjustizministerium mitnimmt.«
» Also, wie können Sie…?«
Aber Inga Jäger war noch nicht fertig. » Dass er
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