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Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden

Titel: Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Autoren: Nojoud Ali , mit Delphine Minoui
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bestanden aus einem einfachen Loch, umrahmt von Ziegelsteinen. Nach Einbruch der Dunkelheit verwandelte sich das große Wohnzimmer, dessen einzige Dekoration aus ein paar auf den Boden geworfenen Kissen bestand, in unser Schlafzimmer. Um von einem Zimmer ins andere zu gelangen, mussten wir den Innenhof überqueren. Dieser wurde während des Sommers zum wichtigsten Ort unseres Familienlebens.
Omma
richtete sich eine Küche unter freiem Himmel ein, und während ihre
salta
auf einem Holzfeuer köchelte, stillte sie die Kleinsten. Meine Brüder büffelten dort ihr Alphabet. Und die Mädchen hielten auf einem Bett aus Stroh ihren Mittagsschlaf.
    Mein Vater war selten zu Hause. Normalerweise stand er bei Sonnenaufgang auf, um seine Herde auf die Weide zu treiben. Er besaß achtzig Schafe und vier Kühe. Diese gaben ausreichend Milch, um Butter, Joghurt und Quark herzustellen. Wenn mein Vater aus dem Haus ging, um den Bewohnern des Nachbardorfes einen Besuch abzustatten, zog er immer eine braune Jacke über seine
zanna
und band seinen
jambia
an den Gürtel. Man sagt, dieser scharfe Dolch, der von Hand verziert ist und von den Männern meines Landes getragen wird, sei ein Symbol für Macht, Männlichkeit und Ansehen in der jemenitischen Gesellschaft. In der Tat verlieh er meinem Vater eine gewisse Würde und eine beeindruckende Eleganz. Ich war stolz auf meinen
Aba
. Doch offenbar dient der Dolch eher als Zierde denn als wirkliche Waffe. Jeder wetteifert darin, den schönsten
jambia
zu tragen. Die Preise sind übrigens sehr unterschiedlich, je nachdem, aus welchem Material der Schaft gefertigt ist, aus Plastik, Elfenbein oder echtem Rhinozeroshorn. Die Gesetze unserer Stammeskultur verbieten anscheinend, ihn dafür zu benutzen, sich gewaltsam zu verteidigen oder den Gegner bei einem Streit anzugreifen. Dagegen kann ein
jambia
als Hilfsmittel bei der Schlichtung eines Konflikts dienen. Er ist vor allem ein Symbol für die Stammesjustiz. Niemals hätte mein Vater gedacht, dass er sich einmal seiner bedienen müsste, bis zu jenem Unglückstag, an dem wir innerhalb von vierundzwanzig Stunden aus dem Dorf fliehen mussten.
    Ich war zwei oder drei Jahre alt, als sich der »Skandal« ereignete.
Omma
war wegen Gesundheitsbeschwerden ausnahmsweise unterwegs in die Hauptstadt Sanaa. Aus einem Grunde, der sicher mit ihrer Abwesenheit zusammenhing, doch dessen Einzelheiten mir damals entgingen, kam es zu einem gewaltsamen Streit zwischen meinem Vater und den anderen Dorfbewohnern von Khardji. In den Gesprächen fiel häufig der Name von Mona, meiner zweitältesten Schwester. Es wurde damals entschieden, das Problem nach Stammestradition zu regeln, indem man die
jambias
und
Rial
-Bündel zwischen den gegnerischen Parteien aufhäufte. Doch die Diskussion eskalierte, und entgegen den üblichen Regeln wurden die scharfen Klingen aus den Futteralen gezogen. Die Einwohner von Khardji bezichtigten meinen Vater, die Ehre des Dorfes mit Füßen getreten und sein Ansehen geschädigt zu haben. Mein Vater war außer sich. Er fühlte sich von all denen, die er für seine Freunde hielt, hintergangen und gedemütigt. Mona wurde von heute auf morgen verheiratet. Sie dürfte kaum dreizehn Jahre alt gewesen sein. Was war genau vorgefallen? Das sollte ich erst später erfahren. Wir mussten uns Hals über Kopf auf den Weg machen und ließen alles zurück: Schafe, Kühe, Hühner, Bienen und die Erinnerungen an das, was mir als ein Stück vom Paradies erschienen war.
    Die Ankunft in Sanaa war schrecklich. Es war schwer, sich an die staubige, laute Hauptstadt zu gewöhnen.
    Der Übergang von dem satten Grün des Wadi- La’a-Tals zu dieser ausgedorrten, in alle Richtungen ausufernden Stadt war brutal. Sobald man den ehemaligen Stadtkern und seine hübschen traditionellen Lehmhäuser mit ihrem weißen, wie Klöppelspitzen wirkenden Fensterschmuck hinter sich ließ, wandelte sich die Stadtlandschaft in ein monströses Gewirr von unförmigen Betonbauten. Auf der Straße war ich praktisch auf Augenhöhe mit den Auspuffen, und die Dieselschwaden brannten mir im Hals. Öffentliche Gärten, wo man ein bisschen Auslauf gehabt hätte, gab es kaum. Der Zugang zu den meisten Vergnügungsparks kostete Geld und war damit den Reicheren vorbehalten.

    Wir zogen ins Erdgeschoss einer Bruchbude im Viertel Al-Qa, eingezwängt in eine Gasse, wo sich der Müll auftürmte.
Aba
war deprimiert. Er redete kaum und hatte völlig den Appetit verloren. Wie konnte ein einfacher Bauer,
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