Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Titel: Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Autoren: Sally Koslow
Vom Netzwerk:
und was sollte aus Hicks’ Ziegenherde werden? Die Probleme reicher Leute, schön, wenn man keine anderen hat.
    Eine spät eintreffende, gut gepolsterte Frau mit einem vollen, faltenlosen Gesicht und einer weißen Strähne im dunklen Haar schlüpft in die Kirchenbank hinter Annabel. Sie lehnt sich vor, um sie auf die Wangen zu küssen und fest zu umarmen. Annabel gibt sich der Umarmung dieses Muttertiers ganz hin. »Tante Lucy, da bist du ja«, sagt sie.
    »Jetzt sind wir alle hier«, erwidert Lucy.
    Ja, jetzt sind wir alle hier.
    Und dazu gehört auch ein junger, lächelnder Rabbi, der in einem roten Cabrio von Edinburgh hierhergefahren ist. Ein Sonnenstrahl fängt sich im glänzenden Seidenbrokat seiner schwarzen Jarmulke, als er sein »Schalom« ruft und Barry bittet, den Kiddusch über dem Wein zu sprechen. Barry, der ohne Stephanie angereist ist, geht etwas steif – letzten Monat hat er sich die Knie ersetzen lassen, der Preis für das viele Joggen auf unnachgiebigem Asphalt   –, doch er lächelt herzlich. Er ist einer der wenigen Männer, die sogar von einem kahlrasierten Schädel noch profitieren. Barry hebt den Kidduschbecher der Familie Marx, den er aus New York mitgebracht hat, die immer noch ruhigen Chirurgenhände umfassen das von Weinreben und so vielen Erinnerungen umschlungene Gefäß. Ich höre die hebräischen Worte, gesungen von seiner kräftigen, sicheren Stimme, und frage mich, was er wohl denkt.
    Er gehört zu einer anderen Frau. Doch es ist mir egal, und ich will auch nichts mehr davon wissen. Der Geistliche ruft Annabel und Ewan zu sich. Als die beiden die Stirnseite erreichen, küssen sie sich. All meine alten Fähigkeiten sind mit einem Schlag wieder da: Annabel empfindet eine überbordende Freude, nur getrübt durch die leichte Wehmut, die sie immer spürt, wenn sie sich wünscht, auch ich wäre anwesend. Heute bin ich es. Gott, wenn Du in dieser Kapelle bist, dann lass es sie wissen.
    »Würde die Patin bitte vortreten?«, sagt der Geistliche.
    Salagedoola, mitchicaboola, bibbety-bobety-boo, juhu – es ist wie bei ›Cinderella‹, wir haben eine Patentante! Sie kommt nachvorn. Zu diesem Anlass trägt die stolze Großtante feste Schuhe und ein fließendes saphirblaues Gewand. Mit der weißen Strähne im Haar und dem Ring ihres Ehemannes am Finger ist sie endlich tatsächlich Lucy in the Sky with Diamonds. Sie stellt sich neben Barry, und ja, sie umarmen sich – nichts Aufgesetztes, sondern eine echte, wenn auch kurze Zusammengehörigkeit.
    »Hat dieses Kind«, fragt der Geistliche, »einen Namen?«
    »Ja, das hat es«, antwortet Ewan und lächelt Annabel an. »Es soll Molly heißen. Molly Divine.«
    Vielleicht
ist
Gott wirklich in dieser Kapelle anwesend.
    »Molly Divine Campbell«, sagt der Rabbi zu dem schlafenden Baby. »Nach wem wirst du benannt, mein kleines Bubbele?«
    »Nach meiner Mutter«, erwidert Annabel.
Schon lang verstorben,
denkt sie,
aber immer lebendig in meinem Herzen.
    »Nach meiner Schwester«, sagt Lucy. »Und falls meine Schwester jetzt hier bei uns in dieser Kapelle ist, hat sie hoffentlich nichts dagegen, wenn ich ein Gedicht vorlese, das sie als junges Mädchen geschrieben hat.«
    Wird Lucy denn nie aufhören, mir Peinlichkeiten zu bescheren?
    »Streif den taubengrauen Mantel mir ab«,
beginnt Lucy
,
    »Lass seidiges Licht meine Schultern umschmeicheln,
    Denn ich singe ein Duett mit Gott.«
    Ehe all das geschah, habe ich wirklich an Gott geglaubt.
    »Die Flüsse stimmen ein in den Refrain,
    Und auch die Sterne, wie ein silbriger Sopran.
    Kiesel zieren den heiligen Schlamm,
    Muscheln, Schlangen und Schatten von Seesternen.
    Und inmitten dieses Crescendos wächst eine Pflanze,
    Singt ein Loblied auf lebenspendende Wurzeln,
    Umstanden von Fliegenpilzen und Ölbäumen.«
    Wo hat Lucy das nur gefunden? War ich tatsächlich mal eine verträumte Sechzehnjährige, die sehnsüchtig darauf wartete, dass ihr Leben beginnt? Lucys Blick durchdringt mich und drückt mich gegen die Steinwand.
    »Mein letzter Traum klingt noch nach in mir,
    Nun warte ich auf den Kuss des Frühlings.
    Jetzt geh. Und lass die Liebe zu mir kommen.«
    Meine Schwester nimmt ihre Lesebrille ab, legt das Gedicht zur Seite und sieht zuerst Annabel an und dann ihre Großnichte. »Das wünsche ich Molly«, sagt sie. »Dass sie die Liebe kennenlernt.«
    Amen. Möge sie die Liebe kennenlernen, jung und für immer, so wie ihre Mutter offenbar.
    Da hier zwei Religionen vertreten sind, wird der Kopf des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher