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Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Titel: Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Autoren: Sally Koslow
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nur noch ein kraftloses Ächzen und gurgelndes Röcheln herauskam.
    Irgendwer würde mich finden. Irgendwer musste mich finden. Bald.
    Ich sagte mir immer wieder, laut flüsternd, dass ich ruhig bleiben musste und wach. Ich sagte das Alphabet auf, zählte bis tausend – auf Englisch, dann auf Französisch, dann rückwärts.
    War das Luke, den ich da über mir stehen sah – der mir sagte, ich solle warten, er hole Hilfe? War es Luke oder nur eine Hoffnung, ein Gebet, in Jeans gekleidete Liebe?
    War ich tatsächlich von einer marodierenden Hexe in Schwarz, Coco Chanels schlimmstem Albtraum, vom Weg abgedrängt worden? Oder war das nur eine Halluzination? Hatte eine Frau behauptet, dass sie Barry liebte? Und liebte Barry sie, und nicht mich?
    Kam es darauf jetzt noch an? Es kam nur darauf an, am Leben zu bleiben.
    Ich versuchte mich auf die höchste Spitze der Riverside Churchzu konzentrieren, eine Krone, die am nachtschwarzen Himmel hing. Annabels knapp vier Lebensjahre liefen vor mir ab, angefangen mit jener Nacht, in der mit ziemlicher Sicherheit das Spermium auf die Eizelle traf und ein neuer Mensch heranwuchs. Fast neun Monate wundersamer Schwangerschaft, jede Bewegung in meinem Inneren eine Erinnerung an das entstehende Leben. William Alexander. Alexander William. Würde ich ihn je zu sehen bekommen? Annabels Geburt übersprang ich. Die erste Zeit zu Hause mit meinem rosigen, kahlköpfigen, schönen Baby, das Stillen in den frühen Morgenstunden, nur wir beide, ein verschworenes Milchteam, das sich im samtgrünen Schaukelstuhl wiegte. Annabels erster Zahn, erstes Eis, erster Lolli, erste Puppe, erster Trotzanfall, erster Haarschnitt. Wie sie über den glänzenden Parkettboden robbte wie eine Krabbe, laufen lernte, plötzlich »Mom my « sagte. So viel Beginn.
    Ich versuchte mich an jedes Geburtstagsfest zu erinnern, an jedes Kleid, an jeden Kuchen, vor allem an den Schokoladenbären, den ich zu ihrem dritten Geburtstag selbst gebacken und mit Kokosraspeln bestreut hatte, damit man den misslungenen Schokoguss nicht sah. Puste die Kerzen aus. Jetzt bist du schon ein Jahr alt! Schon zwei! Schon drei! Schon vier! Nein, noch nicht vier. Ich musste am Leben bleiben für den vierten Geburtstag. Ich musste den vierten Geburtstag erleben. Eins, zwei, drei   …
    Ich werde immer Annabels Mutter sein. Ich werde immer Annabels Mutter sein,
sagte ich mir wieder und wieder. Mein letzter Gedanke, ehe ich die Augen schloss.

45
Auf unser Wohl
    Die Ewigkeit ist eine immerwährende Wohltat, die sanft herniedersinkt wie eine süße Schicht feinen Puderzuckers. Hier in der Ewigkeit fliege ich durch die Zeit wie ein Flugzeug durch die Wolken. Die Zeit türmt sich vor mir zu Schneewehen, makellos, endlos. Wir denken nicht in Jahren oder Jahrzehnten. Wir denken überhaupt nicht in Kategorien der Zeit.
    »Hast du damals« – das Wort
Leben
auszusprechen ist ganz schlechter Stil – »viel über den Tod nachgedacht?«, fragte Bob eines Tages. »Hattest du Albträume? Vorahnungen?«
    Sam hatte welche. Als Psychoanalytiker lebte er ja praktisch in den Köpfen der Menschen, den schrecklichsten Orten der Welt, voll verquerer Beziehungen und mottenzerfressener Reue. Die Patienten verließen erleichtert seine Praxis, und unweigerlich durchlebte Sam die von ihm gebannten Ängste erneut in seinen Träumen und arbeitete sich an den Rätseln ihrer Herzen ab.
    Sorgen? Natürlich machte ich mir Sorgen, Sorge war mein zweiter Vorname. Aber echte Albträume? Selten. Ich grübelte eher darüber, was für Katastrophen passieren konnten. Ja, zu vieles davon ist wirklich eingetreten. Doch wenn ich jetzt diese Probleme, die mein Glück getrübt haben, heraufzubeschwören versuche, ist all das in der Erinnerung nichts als eine dicke, zähe Masse.
    Sam und Bob gehören immer noch zu meinem sich ständig erweiternden Kreis. Jordan, Stephanies Sohn ist auch hier, das Opfer eines verhängnisvollen Helikopter-Ski-Unfalls. Er hat nur einen Augenblick zu lang die großartigen Granitzacken bewundert und kawumm. Tot.
    Danach war Stephanie nie wieder dieselbe, das einzig Gute an dieser Tragödie. Seitdem quält sie unablässig der Gedanke an göttliche Vergeltung, was Barrys Leben schwierig gemacht hat. Stephanie Lipschitz Joseph Marx, die Tochter liberaler Juden ausLong Island, hat eine seltsame Wandlung vollzogen und ist jetzt aberwitzig fromm. Sie kocht nur noch koscher und bedeckt ihr kurzes graues Haar mit einer Perücke. Sie weigert sich auch, am Schabbat
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