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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman
Autoren: Lawrence Hill
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ich mich
wie ausgelaugt. Als ich vor Jahren in jenem Dorf im Inneren Sierra Leones Abend
für Abend meine Geschichte erzählt hatte, war mir von den Leuten Bewunderung
entgegengebracht worden. Mit ihrem Lachen und ihren Zwischenrufen, mit dem
Essen und Trinken, das sie mir aufdrängten, hatten sie mir das Gefühl
vermittelt, von einer Familie umgeben zu sein. Hier vor dem Ausschuss war es
ganz anders gewesen. Abgesehen von einem gelegentlichen Aufstöhnen und dem
Kratzen der Schreibfedern hatte ich das Gefühl gehabt, zu einer Wand zu reden.
Ich hatte keine Ahnung, was die Abgeordneten von mir und meinen Worten hielten,
hatten sie doch still wie Eulen dagesessen und nichts als Fragen gestellt.
    Am nächsten Morgen
brachte John Clarkson mir die Times , die Morning
Chronicle , die Gazette , die Morning Post und Lloyd’s List . Alle brachten die Geschichte meiner Anhörung, und alle fingen mit der
Narbe an. Auch über die nächsten Wochen erschienen immer neue Berichte über
das, was ich dem Ausschuss berichtet hatte, und jeden Tag kamen neue Anfragen
von Leuten, die mit mir sprechen wollten. Als die Reporter befriedigt waren,
gab es Einladungen, vor Schulkindern sowie literarischen und historischen
Gesellschaften zu sprechen. Einige dieser Einladungen nahm ich an und stellte
fest, dass mir diese Leute weit mehr zu sagen hatten.
    Eines Abends dann
klopfte John Clarkson an meine Tür.
    »Ein Brief für Sie«,
sagte er. »Und lassen Sie mich Ihnen sagen, dass Sie, was die öffentliche
Beachtung angeht, mittlerweile jedes einzelne Mitglied der Abolitionisten
übertroffen haben, eventuell mit Ausnahme von William Wilberforce.«
    Er lächelte, als ich
den Brief nahm, und fragte, ob er bleiben dürfe, während ich ihn aufmachte.
    »Ja, Lieutenant«, sagte
ich.
    »John«, sagte er.
    Ich nickte und
    studierte den Umschlag. Er trug das Siegel von König George  III . Drinnen fand ich eine Karte, die um
das Vergnügen bat, mich zum Tee begrüßen zu dürfen.
    »Fantastisch«, sagte
Clarkson immer wieder. »Niemals hätte der König Olaudah Equiano eingeladen.
Mehr hätten wir alle nicht erhoffen können.«
    Als die Abolitionisten
die Nachricht verbreiteten, dass der König und die Königin zum ersten Mal eine
Afrikanerin empfangen würden, nahmen die Zeitungen das Thema noch einmal auf.
Für die Morning Post zeichnete der Künstler James Gillray eine Karikatur, auf der ich König
    George  III . ein Stück Zucker aus der Hand
pflückte. Der König war knochendünn dargestellt, ich war fett, und in einer
Sprechblase vor meinen Lippen standen die Worte: Das
nehme ich .
    Als einziger
Parlamentsabgeordneter unter den Abolitionisten wurde William Wilberforce
ausgewählt, mich zum Tee mit dem König zu begleiten. Zahllose Leute standen vor
dem Büro der Abolitionisten an und hofften darauf, mich sprechen zu können.
Seit Wochen bildeten sich täglich neue Schlangen. Es hatte den Anschein, als wollte
halb London mit mir sprechen. Ich sah Hector Smithers in der Menge und winkte,
konnte aber nicht stehenbleiben. Und dann sah ich noch einmal hin.
    Inmitten all der weißen
Leute sah ich ein schwarzes Gesicht. Es gehörte einer schönen jungen
Afrikanerin, die vielleicht achtzehn Jahre alt war. Zwischen all den Leuten
strahlte sie mit ihrer aufrechten Haltung Würde und Ehrbarkeit aus. Unsere
Blicke trafen sich, und ich fragte mich, wo ich sie schon gesehen hatte. Ihre
Lippen bewegten sich, aber in dem alles umhüllenden Lärm konnte ich ihre Worte
nicht verstehen.
    »Wer bist du?«,
versuchte ich ihr zuzurufen, doch sie konnte auch mich nicht verstehen.
    Wie dumm ich doch war.
Nach all den Jahren erwischte ich mich immer noch dabei, die Gesichter in der
Menge zu mustern und auf das Unmögliche zu hoffen.
    Ich hatte in meinem
Leben so viele geliebte Menschen verloren, und keiner von ihnen war zu mir
zurückgekommen. Dennoch konnte ich nicht anders und fragte mich, warum diese
junge Frau da mit all den anderen wohl im Regen gestanden hatte, um einen Blick
auf mich zu erhaschen. Aber dann musste ich meine Gedanken beiseiteschieben,
denn ich wurde in eine Kutsche gesetzt und zum Buckingham Palace gefahren.
    Ich hatte mit einem persönlichen Treffen mit dem Königspaar gerechnet,
doch als Wilberforce und ich in einen Salon von der Größe eines ganzen Hauses
geführt wurden, sah ich Dutzende Bedienstete und ebenso viele Männer und Frauen
mit Perücken und edel gewandet. Ein Perücke tragender Parlamentsabgeordneter
nach dem anderen trat
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