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Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)

Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)

Titel: Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
Autoren: Rajesh Parameswaran
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leichtsinnig erstickt. Um Himmels willen. Ich hob ihn auf und schüttelte ihn nach links und rechts. Dann ließ ich ihn fallen, brüllte ihn an, hob ihn wieder auf und schleuderte ihn noch etwas länger herum in der Hoffnung, ihn irgendwie zu erwecken.
    Er war danach nicht lebendiger als vorher, sah jetzt aber ziemlich lädiert aus, mit kleinen Schrammen hier und da, verrenkten Gliedern, blauen Flecken, die sich ausbreiteten wie Seen, und kleinen Löchern von meinen Zähnen, wobei mir das in seinem rechten Auge, aus dem ein farbiger Sirup lief, die größte Sorge bereitete.
    Mir wurde übel. Wieso tat ich das bloß immer wieder – unabsichtlich Menschen verletzen? Was stimmte mit mir nicht? War ich etwa böse?
    Ich schnappte mir den Babymenschen wieder an seinem schmutzigen Stofffetzen, sodass er an meinen Zähnen baumelte, und trug ihn davon. Jetzt musste ich zwei Menschen wieder in Ordnung bringen, aber das hatte auch etwas Tröstliches: Wenn ich jemanden fand, der mir mit diesem Jungen half (das federleicht und gut zu tragen war), dann wusste ich immerhin, dass es Hilfe für Kitch gab.
    Und, ja, ich musste das Blut dieses kleinen Menschen einfach kosten; es schmeckte noch süßer als das von Kitch. Doch obwohl ich einen ganzen Tag lang nichts gefressen hatte, kam es mir nie in den Sinn, dieses Kind zu fressen. Na ja, genau genommen dachte ich einmal ganz kurz daran, verwarf diesen kranken Gedanken dann aber sofort wieder.
    Ich streifte durch die Straßen des Ortes, an meinem Maul baumelte das tote, triefende Menschenbaby, das ich vor mir hertrug wie der Nachtwächter im Zoo seine Lampe, und ich sah kein anderes Lebewesen. Es war niemand da, der helfen konnte.
    Ich muss noch weitere Stunden so umhergeirrt sein, bevor ich schließlich zu einem riesigen Meer aus stehenden Blechkästen gelangte, die vor einem großen Betonklotz voller Menschen standen. Ich ging auf sie zu, und wieder rannten sie schreiend vor mir weg, aber an diese Reaktion war ich mittlerweile so gewöhnt, dass ich die Menschen gar nicht mehr beachtete. Ich war auf der Suche nach dem einen Menschen, der mich ansah, stehen blieb und wusste, was zu tun ist – derjenige, der wusste, wie man diesem Jungen, mir und meinem Freund helfen konnte, meiner großen Liebe Kitch.
    Ich ging weiter in den Betonklotz hinein, und die Leute rannten schreiend in alle Richtungen davon, aber ich blieb ruhig. Die Leute trugen Tüten voller Kleider und Spielzeug, Gerätschaften und Sachen, und als sie mich sahen, ließen sie sie fallen oder schmissen sie irgendwohin, aber ich ging einfach ruhig weiter.
    Am anderen Ende des Gebäudes trat ich wieder hinaus ins Sonnenlicht. Niemand hatte mir geholfen, und ich fragte mich nun wirklich: War ein totes Baby denn allen egal? Gab es niemanden auf dieser Welt, den das kümmerte?
    Mittlerweile stand die Sonne schon tief, und ich war niedergeschlagen. Ich wollte mich einfach nur hinlegen und alles vergessen, ich wollte diesen Tag abhaken und im Nichts verschwinden lassen.
    Ich überquerte schließlich eine weitere Straße – die Räderkisten quietschten und krachten ineinander und erwischten mich fast, aber es war mir egal – und suchte mir ein ruhiges Eckchen unter einer großen Brücke. Über mir hörte ich diese rollenden Dinger vorbeirauschen, aber hier unten war es schattig und kühl. Vorsichtig legte ich das Menschenjunge ab und ließ mich neben ihm nieder. Irgendwo in der Ferne heulten Sirenen. Über mir sausten diese Kisten vorbei, eine nach der anderen, und die Brücke ächzte und bebte unter ihrem Gewicht. Vom Himmel hallte das zerfetzte Dröhnen von irgendetwas Fliegendem, und alle Geräusche auf dieser Welt erschienen mir hässlich und neu. Von weit weg glaubte ich den lauten Knall eines Gewehrs zu hören, und ich wusste, sein orangefarbenes Feuer war nicht mehr weit. Ich wollte nur noch zurück in mein Gehege, das Baby sollte wieder leben und Kitch sollte es gut gehen. Aber das würde nicht geschehen. Ich hatte mir etwas vorgemacht – nichts auf der Welt konnte Kitch wieder lebendig machen. Manche Dinge lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Es würde einfach nie geschehen.
    Ich stellte mir Kitchs rundes Gesicht vor, wie es vor ein paar Tagen war, rosarot und leuchtend unter seiner khakifarbenen Kappe, und musste unwillkürlich lächeln. Ich dachte an die Row-your-boat-Frau und ihr sanftes, trauriges Lied. Ich hatte mich so darüber geärgert, aber jetzt erschien mir dieser Klang geradezu lieblich:
    My brothers
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