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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten
Autoren: Lisa Unger
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bekommen. Nur so kann ich die Welt verstehen, nur so kann ich mir meine Frage beantworten. Warum?
    Ich schreibe über einen Jungen im kommunistischen Osteuropa, der von seiner Mutter in ein Waisenheim abgeschoben wird. Ich stelle mir seine trostlosen Tage und seine einsamen, traurigen Nächte vor. Ich stelle mir vor, wie er sich nach der Mutter sehnt, die ihn zurückgelassen hat, und nach seinem alten Kinderzimmer. Ich weiß, wie es ist, verlassen zu werden und Angst zu haben. Ich weiß, wie es ist, eine andere Person an einem anderen Ort sein zu wollen. Ich kenne den Jungen nicht, aber ich kenne seine Gefühle; ich kann Mitleid für ihn empfinden, selbst wenn der Mann, zu dem er heranwuchs, mich vernichten wollte, mich angeschossen hat, meinem Leben ein Ende machen wollte, um seins zu retten. Auf dem Papier kann ich mir die Frage beantworten: Warum? Und die Antworten, die ich dort finde, reichen mir. Gezwungenermaßen.
    Ich höre Jack im Erdgeschoss hämmern. Er arbeitet am Haus, baut Regale für einen Raum, den er mein Schreibzimmer nennt. Ich weise ihn darauf hin, dass wir nicht zusammen sind. Dass ich nur vorübergehend bei ihm wohne, bis ich das Apartment, in dem ich mit meinem Mann gelebt habe, verkauft und einen neuen Plan habe. Klar, sagt er. Weiß ich.
    Kristof Ragan war nie mein Mann, vor dem Gesetz nicht und in keiner anderen Hinsicht. Er war bloß ein Mann, den ich glaubte zu lieben und zu kennen. Ich höre immer noch seine Stimme, seine weisen Ratschläge. Ich habe auch gute Erinnerungen an ihn. Wirklich.
    Vor zwei Tagen habe ich mich im Veselka’s an der Second Avenue zum Frühstück mit Detective Grady Crowe getroffen. Ich war zu früh und setzte mich in den hintersten Teil des Cafés, um die Studenten zu beobachten, die Gruftis, die Klubgänger, für die es nicht früh, sondern spät war, die Künstlertypen, die Bürogänger - die typische New Yorker Mischung, die man nirgendwo sonst zu sehen bekommt.
    Detective Crowe sah frisch und munter aus, als er eintrat, den Blick über die Menge schweifen ließ und dann an meinen Tisch kam.
    »Gut sehen Sie aus«, sagte er lächelnd und schüttelte mir die Hand. »Bleiben Sie sitzen.«
    Er nahm mir gegenüber Platz. Wir hatten den Pflichtteil hinter uns gebracht, die Befragungen, Vorwürfe, Ermahnungen. Ich musste feststellen, dass ich ihn trotz der unschönen Dinge, die sich zwischen uns abgespielt hatten, ganz gern mochte.
    »Sie sehen glücklich aus«, sagte ich.
    Er hob die Hand, tippte auf seinen Ring. »Meine Frau ist zurückgekommen. Wir bekommen ein Baby.«
    Die Information traf mich wie ein Schlag, und vor Kummer drehte sich mir der Magen um. Er sah es.
    »Es tut mir leid. Manchmal bin ich einfach ein unsensibler Trottel. Na ja, meistens.«
    »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben es verdient, glücklich zu sein.«
    »Sie auch.«
    Ich dachte an Jack. »Ist nur eine Frage der Zeit.«
    Wir bestellten Kaffee und Kartoffelpfannkuchen.
    »Was ist los? Oder haben Sie mich einfach nur vermisst?«, fragte er mit einem listigen Lächeln. Mir fiel auf, wie attraktiv er war. Und glücklich sah er noch besser aus als wütend und verbittert - was wohl für jeden Menschen gilt.
    »Ich weiß nicht. Ich frage mich ständig, ob es da etwas gibt, von dem ich nichts ahne. Etwas, das Sie mir und den Journalisten verschwiegen haben«, sagte ich.
    »Was, zum Beispiel?«
    »Keine Ahnung. Ich habe mich über die Rolle des FBI gewundert. Die ermittelten längst, als Kristof davon erfuhr. Warum hat das FBI nicht früher eingegriffen?«
    »Einen Monat vor Ragans Flucht hat sich Camilla dem FBI anvertraut. Die haben die Ermittlungen sofort aufgenommen, aber diesen Agenten geht es meistens darum, möglichst viel Belastungsmaterial zu sammeln. Dafür nehmen sie sich Zeit.« Er nippte an seinem Kaffee. »Vermutlich hat Camilla Ragan im letzten Moment gewarnt und ihm so die Möglichkeit gegeben, der Razzia zuvorzukommen. Vielleicht fühlte sie sich schuldig. Oder hoffte, er würde ihr verzeihen. Aber da hatte sie sich geirrt.«
    »Aber mit wem war Camilla im Park verabredet? Wer war der Mann, den ich habe sterben sehen? Warum wollte sie ihm die Fotos geben?«
    »Der Tote wurde als Vasco Berisha identifiziert, ein albanischer Gangster mit Verbindungen zu Ivan Ragan.«
    »Was wollte er mit den Bildern tun? Außerdem, wie ist Camilla an die Aufnahmen gekommen?«
    »Camilla hat selbst fotografiert. Sie folgte Ragan im Auftrag des FBI. Charlie Shane versorgte sie mit
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