Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
jüngeren Sohn gestohlen
habe, des Computers der Frau, bei dem ich nachts die Festplatte erneuert
habe, nur um Arger zu machen, des Geldes, das ich in seinem Namen
eingezahlt habe, und so weiter und so weiter und so weiter...
Ich gebe auch Sie preis. Ich berichte über die Verbrechen, die Sie in den
vergangenen Jahren immer wieder begangen haben. Sie werden davon
überrascht sein, wieviel ich weiß. Eine einigermaßen tatkräftige Polizei wird Sie nach kurzen Ermittlungen vor Gericht bringen und verurteilen lassen
können.
Die Entscheidung liegt bei Ihnen.
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Wenn Sie Ihre Entscheidung fassen, dann vergessen Sie nicht das
Versprechen des alten Pokeface, Ihrer Chefredakteurin am 1. September ein
Päckchen zu schicken. Vielleicht lügt Pokeface, vielleicht nicht. Da ich
Pokeface bin, weiß ich die Wahrheit.
Sie dagegen können nur raten.
Sie haben mir alles genommen. Sie haben mich zu dem Tod verurteilt, in dem
ich jetzt meine Zuflucht genommen habe. Zum Ausgleich habe ich Sie beide in
die Hölle geschickt.
Stäle Salvesen.
Erik Henriksen war als erster fertig.
Er legte mit leisem Kopfschütteln den Ausdruck auf den Tisch.
»Das 8. Gebot«, sagte er düster. »Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen
wider deinen Nächsten. Das kann dich verdammt teuer zu stehen kommen.«
Das Rascheln des Papiers wurde von schockiertem und immer lauter
werdendem Gemurmel abgelöst. Hanne Wilhelmsen saß am Kopfende des
Tisches im stickigen Besprechungszimmer, zwischen dem Abteilungsschef und
Polizeipräsident Mykland.
»Karianne«, sagte sie kurz und hob die Hand, um für Ruhe zu sorgen.
»Also«, begann Karianne Holbeck. »Das war das einzige Dokument, das wir
auf der Festplatte finden konnten. Es war gelöscht worden, aber nicht sehr
schwer zurückzuholen. Salvesen muß die im Brief beschriebene CD-ROM mit
einem anderen Gerät hergestellt haben.«
»Heißt das, daß wir vom Inhalt der CD-ROM keine Ahnung haben?«
Billy T. versuchte, Hannes Blick einzufangen, mußte aber aufgeben. Also
starrte er Karianne an, die mit tiefrosa Wangen vor ihrem Laptop saß.
»Der ist im Brief doch ziemlich gut beschrieben. Aber
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wenn wir mehr von Salvesens Hardware finden... nein... also ... naja, wir
könnten doch das Glück haben, daß wir die CD auftreiben. Oder eine Kopie.
Die Jungs stellen gerade die gesamte Vogts gate 14 auf den Kopf. Sie sind
allerdings schon die ganze Nacht dabei und haben noch nichts auf irgendeine
Weise Interessantes gefunden. Also sollten wir nicht gerade optimistisch
sein.«
»Verdammt«, sagte Billy T. und schlug die Fäuste gegeneinander.
»Die brauchen wir nicht«, sagte Hanne trocken.
»Nein, aber überleg doch mal! Mehr Details wären doch verdammt
interessant. Von einem Set-up dieses Ausmaßes hab ich noch nie gehört. Der
Typ hat doch Jahre seines Lebens dazu verwendet, um seine Rache
vorzubereiten.«
Wieder schaute er Hanne an. Er wollte ihr seine Anerkennung zeigen, seinen
Respekt. Hanne Wilhelmsen hatte von Anfang an an Halvorsruds Unschuld
geglaubt. Sie hatte unangefochten von der Hartnäckigkeit der anderen für ihre
Theorie argumentiert, logisch und selbstverständlich, allen gegenüber, die ihr
zuhören mochten. Billy T. empfand einen physischen Schmerz in der Brust, er
schaute Hanne an, die vor ihnen stand, bleich, verhärmt und ungeschminkt,
älter, als er sie jemals gesehen hatte, mit mageren Händen, die sich am
Filzstift zu schaffen machten, und einem Blick, der seinem nie begegnete, so
sehr er sich auch darum bemühte. Er wollte sie zurückhaben. Sie sollte ihm
verzeihen, so, wie er ihr verziehen hatte. Als er an dem Abend schlafen
gegangen war, am Abend danach, hatte er bis zwei Uhr wachgelegen. Er hatte
Jennys Kleinkindgeräuschen gelauscht, bei denen immer wieder Zuckungen
über Tone-Marits schlafendes Gesicht gehuscht waren. Als er ihre Hand in
seiner spürte, als ihre Hand sich im Schlaf zu seiner hingetastet hatte, hatte er Hanne und sich selbst verziehen. Er wußte, daß alles wie früher werden
konnte, wenn sie nur seinem Beispiel folgte.
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Sie weigerte sich, seinen Blick zu erwidern.
»Der Joghurt im Kühlschrank«, sagte sie plötzlich und drehte sich zum
Overheadprojektor um. »Warum sollte Stäle Salvesen sich soviel Mühe damit
geben, in seinem Leben und seiner Wohnung aufzuräumen, um danach da-
tierte Lebensmittel in seinem Kühlschrank zu vergessen?«
Sie zeichnete einen Joghurtbecher und einen Milchkarton. Ihre
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