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Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)

Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)

Titel: Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
Autoren: Josef Kraus
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Mitarbeiterin im Projekt «Neurobiologische Grundlagen von Wissenserwerb und Wissensvermittlung», das Gerhard Roth am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst ins Leben gerufen hat. Bei diesen Leuten findet sich – zum Teil im Internet – vieles an Desillusionierung populärer Neuromythen, unter anderem der vier folgenden.
    Mythos 1: «Lernen lässt Synapsen wachsen, Nichtlernen lässt sie verkümmern.»
    Hirnforscher haben hinsichtlich unserer Synapsen die Parole ausgegeben: «use them or lose them.» Tatsächlich nimmt die Synapsendichte während der Adoleszenz immer weiter ab und erreicht dann mit 18 Jahren den Stand des erwachsenen Gehirns. Dass aber ein Mehr an Synapsen immer besser ist, ist Unfug. Wenn in der frühen Kindheit viele nützliche Nervenverbindungen im Gehirn verschwinden, dann ist das ganz normal. Der Grund ist in der Neustrukturierung des neuronalen Chaos zu sehen. Oder bildhaft erklärt: Das Gehirn beginnt zum Zweck einer Ökonomisierung der Hirnaktivität mit dem Ausjäten eines Dickichts. Das Verschwinden von Synapsen ist also Teil der Reifung des Gehirns, diese Reifung ist kein Verlust.
    Deshalb hat das Gehirn eines zweijährigen Kindes natürlicherweise doppelt so viele Synapsen wie das seines Vaters oder seiner Mutter. Aber es ist belanglos. Hüten wir uns auch davor, aus Tierversuchen einen Transfer auf den Menschen zu unternehmen. Tierversuche, meist mit Ratten, mögen gezeigt haben, dass Tiere, die in komplexen, anregenden Umwelten aufwuchsen, mehr Synapsen in bestimmten Bereichen des Gehirns haben als Tiere, die unter kargeren Bedingungen aufwuchsen. Zugleich fand man bei diesen Ratten heraus, dass es bei der Bildung von Synapsen nicht nur auf Zeitfenster ankomme, sondern dass komplexe Umwelten das ganze Leben hindurch eine ähnliche Wirkung auf Rattenhirne haben. Wie auch immer: Das alles ist ein plumpes Denken in Quantitäten. Der Verlust von Synapsen ist kein Verlust, sondern unvermeidlich und notwendig.
    Mit der Komplexität von Intelligenz hat das nichts zu tun. Die Plastizität des Gehirns bezieht sich nach John T. Bruer (2000) nämlich in erster Linie vor allem auf die Ausbildung elementarer neuronaler Systeme: auf Hören, Sehen und Motorik. Für Elsbeth Stern (2003) ist denn auch eine hohe Neuronendichte im Gehirn nicht gleichzusetzen mit Lernfähigkeit. Lernfähig werde das Gehirn erst dann, wenn sich ganz bestimmte Neuronen verbunden und gleichzeitig eine Ausdünnung stattgefunden hätten. Kinder lernen im Übrigen am meisten, nachdem sich das Synapsenniveau stabilisiert hat. Vom Schuleintritt des Kindes bis zum Ende der Schulzeit gibt es nur noch eine geringe Abnahme der Zahl der Synapsen. In dieser Zeit findet der größte Lernzuwachs statt.
    Mythos 2: «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Es gilt, Zeitfenster, Tuning-Perioden, kognitive Fenster, Entwicklungsfenster, sensible Phasen synaptischer Plastizität zu nutzen, sonst ist der Zug abgefahren.»
    Die ganze Zeitfenster-Theorie wirkt auf viele Eltern und andere Pädagogen alarmierend, denn es wird daraus gefolgert, dass wir Kindern, denen wir bis zum Alter von drei Jahren nicht geholfen haben, überhaupt nicht mehr helfen können. Dass es für das Lernen sensible Phasen gebe? Alles recht und schön, aber diese These wurde abgeleitet aus Experimenten mit Versuchstieren wie Sumpfmeise oder Nachtigall, denen man bestimmte Erfahrungen im Zuge sogenannter Deprivationsexperimente vorenthielt. Spitzer folgert daraus, dass ein Verhalten nicht mehr erlernt werden kann, wenn ein Zeitfenster verstrichen ist. Die Zeitfenster-Theorie gilt aber nur für spezifische und beschränkte Aspekte des Lernens und der Entwicklung. Das unausrottbare Gerücht, dem zufolge sich bestimmte Zeitfenster mit dem dritten Lebensjahr unerbittlich schließen, ist purer Quatsch.
    Dieser Mythos ist für den Menschen längst widerlegt. Der Mensch, so er organisch gesund bleibt, kann bis ins zehnte Lebensjahrzehnt hinauf lernen. Allein schon die alltägliche Begegnung mit älteren Menschen lehrt uns, dass das intakte menschliche Gehirn bis zum Tod lernfähig bleibt. Beim Menschen ist es vor allem eine Frage der Motivation, wann sich Zeitfenster schließen.
    Die Fachleute von der ETH Zürich halten klipp und klar fest: «Bestenfalls lassen sich in Bezug auf die Entwicklung grundlegender motorischer und sprachlicher Fähigkeiten (Tastsinn und Phonetik) sogenannte sensible Phasen nachweisen […]. Hingegen gibt es keine Belege dafür, dass es
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