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Heidi - Buch 1 und 2 - Illustrierte Ausgabe

Heidi - Buch 1 und 2 - Illustrierte Ausgabe

Titel: Heidi - Buch 1 und 2 - Illustrierte Ausgabe
Autoren: Johanna Spyri
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nannte den Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt, und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr; da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und das Kind mitnahm. – Die Barbel wollte also diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen; sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: »Von dir kann man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein solcher Menschenhasser war.«
     
    »Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht präzis wissen, ich bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten. Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm; meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch.«
     
    »A bah, Dete, was meinst denn?«, gab die Barbel ein wenig beleidigt zurück; »es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau, und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss. Erzähl mir’s jetzt, es muss dich nicht gereuen.«
     
    »Ja nu, so will ich, aber halt Wort!«, mahnte die Dete. Erst sah sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre, was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
     
    »Jetzt seh ich’s«, erklärte die Barbel; »siehst du dort?«, und sie wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. »Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso besser erzählen.«
     
    »Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen«, bemerkte die Dete; »es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte.«
     
    »Hat er denn einmal mehr gehabt?«, fragte die Barbel.
     
    »Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat«, entgegnete eifrig die Dete; »eins der schönsten Bauerngüter im Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden. Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er dort unten getroffen
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