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Glanz

Glanz

Titel: Glanz
Autoren: Karl Olsberg
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sich einen zweiten Stuhl heran.
    Meine Hände zitterten vor Aufregung. »Was muss ich tun?«
    »Bleib einfach ganz ruhig sitzen. Wir nehmen jeder eine seiner Hände und fassen uns an, so dass wir einen Kreis bilden. Und jetzt schließ die Augen.«
    Ich gehorchte und konzentrierte mich auf das Bild der Ebene.
    Nichts geschah.
    Enttäuscht öffnete ich die Augen wieder. »Nicht so ungeduldig«, sagte sie mit mildem Tadel in der Stimme.
    Wieder schloss ich die Lider und versuchte, die Vision vom Vortag heraufzubeschwören. Ich wusste noch genau, wie die Ebene ausgesehen hatte – selbst die Form der einzelnen Steine in meiner Nähe hatte ich klar vor Augen. Doch so sehr ich mich bemühte, das Bild wollte sich einfach nicht einstellen.
    »Lass das«, sagte Emily leise. »Versuch nicht, es zu erzwingen. Denk einfach an gar nichts.«
    Ich fragte mich, woher sie wusste, was ich dachte. Konnte sie tatsächlich meine Gedanken lesen?
Kannst du
|39|
das, Emily?
, dachte ich. Aber es gab keine Reaktion. Vermutlich hatte sie nur meine Anspannung gespürt.
    Ich versuchte an gar nichts zu denken, wie Emily gesagt hatte. Aber das ist nicht so einfach. Ich behalf mir damit, dass ich mir einfach nur eine schwarze Wand vorstellte. Oder nein, eher einen schwarzen Vorhang. Einen Vorhang aus dünnem Stoff, schwarze Seide vielleicht. Ich konnte hindurchsehen – auf eine graue, steinige Ebene.
    Ich streckte eine Hand aus, um den Vorhang zur Seite zu schieben, und saß wieder auf meinem Stuhl neben Erics Krankenbett. Ich begriff, dass ich den Kreis unterbrochen hatte.
    Emily tadelte mich nicht. Sie ergriff einfach wieder meine Hand und schloss die Augen. Ich folgte ihrem Beispiel.
    Es dauerte einen Moment, bis ich das Bild wieder sah. Doch durch den schwarzen Schleier war es verschwommen und undeutlich. Ich wartete, sorgsam darauf bedacht, nicht wieder denselben Fehler zu machen, es herbeizwingen zu wollen.
    Doch die Ebene wurde nicht deutlicher.
    Ich wurde ungeduldig. Es war zum Verzweifeln: Da war ich hier, in Erics Gedankenwelt, und dieser dämliche Schleier hielt mich davon ab, ihn zu finden! Doch was ich auch versuchte, ich konnte den transparenten Stoff nicht zum Verschwinden bringen.
    »So hat es keinen Sinn«, sagte Emily nach einer Weile. »Lass es mich noch mal allein versuchen.«
    Ich öffnete die Augen und ließ sie los. Wie gestern umklammerte sie Erics Hand und blieb reglos sitzen. Lange saßen wir so da, während langsam Verzweiflung in mir hochstieg. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und legte meine Hand auf ihre. Doch diesmal gab es kein schockartiges Erlebnis, kein verwirrendes Gefühl, an einen anderen |40| Ort versetzt zu werden. Alles, was ich erreichte, war, dass Emily seufzte und die Augen öffnete.
    Ich erschrak. Ihre Augen waren blutunterlaufen.
    »Es … es tut mir leid, Anna«, sagte sie. »Es geht nicht. Ich kann ihn einfach nicht finden!«

|41| 5.
    Nichts ist grausamer als aufkeimende Hoffnung, die jäh zerstört wird.
    An diesem Abend fiel ich in eine tiefe Depression. Ich legte mich aufs Bett, ohne mich vorher auszuziehen, und starrte einfach ins Leere. Ich hatte nicht einmal genug Energie, um zu weinen.
    Irgendwann schlief ich ein. Als ich erwachte, war es heller Tag. Der Wecker zeigte 11.24 Uhr. Normalerweise war ich um diese Zeit schon längst bei Eric, doch ihn dort liegen zu sehen, unerreichbar trotz Emilys erstaunlicher Fähigkeiten, war mehr, als ich heute verkraften konnte.
    Ich hatte bohrende Kopfschmerzen. Es war keiner der Migräneanfälle, die mich gelegentlich überfielen. Stattdessen schien mein Schädel mit kleinen stachligen Kugeln gefüllt zu sein, die sich unablässig um sich selbst drehten und dabei ein hässliches knirschendes Geräusch machten. Vermutlich war es so etwas wie geistiger Muskelkater, eine Nachwirkung der Anstrengungen meines gestrigen Kontaktversuchs mit Erics Seele. Ich mochte mir nicht vorstellen, wie sich Emily jetzt fühlen musste.
    Ich stand auf, wankte in die Küche und kramte in der Schublade, bis ich eine halbleere Packung Aspirin fand. Ich drückte eine Tablette aus der Plastikhülle und betrachtete sie nachdenklich in meiner offenen Hand.
    Ein Gedanke durchzuckte mich, und ich vergaß meine Schmerzen. Ich ging in Erics Zimmer und öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs. Der Plastikbeutel |42| lag immer noch dort. Ich zählte neunzehn blaue Kapseln.
    Ich nahm eine heraus und drehte sie zwischen den Fingern. Sie fühlte sich weich und glatt an,
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