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Gift

Gift

Titel: Gift
Autoren: William Gordon
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auf ihrem Stammplatz am Eingang. Sie
sah besser aus als beim letzten Mal, als Samuel sie gesehen hatte; sie
hustete weniger und rauchte mehr. Mr. Songs Heilkräuter schienen
tatsächlich Wunder zu wirken. Der kleine Hund empfing Samuel wie
gewohnt mit der überschwänglichen Freude, die er stets an den Tag
legte, wenn Samuel die Bar betrat. Er kam sofort auf ihn zu, um sich
von ihm kraulen zu lassen.
    Weil Samuel sah, dass Melbas Glas leer war, holte er erst an
der Bar ein Bier für sie und für sich selbst einen Scotch auf
Eis – den ersten seit mehreren Tagen –, bevor er sich
zu ihr setzte.
    »Jetzt erzähl deiner alten Freundin gefälligst mal, was du in
letzter Zeit so alles getrieben hast, junger Mann«, brummte sie und
drückte ihre Zigarette aus. Dann nahm sie mehrere Züge aus der
Sauerstoffflasche und zündete sich eine neue Zigarette an.
    »Vorsicht, Melba«, warnte Samuel. »Ist Sauerstoff nicht sehr
leicht entzündlich?«
    »Frag mich was Leichteres.«
    »Wenn die Flasche explodiert, möchte ich jedenfalls nicht
neben dir sitzen.«
    »Jetzt komm mir bitte nicht mit so einem Quatsch, Samuel. Was
tut sich in der Sache mit diesem Armenier?«
    Samuel schilderte ihr ausführlich, was in den letzten Wochen
passiert war. Unter anderem erzählte er ihr auch, was Lucine über El Turco herausgefunden
hatte und dass er noch einmal nach Paris fliegen wollte, um mit
Hagopians Frauen zu sprechen, wenn es Lucine gelang, ein Treffen mit
ihnen zu arrangieren.
    »Inzwischen bestehen kaum mehr Zweifel, dass die Chatoians und El Turco , wer immer sich hinter diesem Namen verbirgt, die
Hauptschuldigen in diesem Fall sind«, sagte Samuel. »Die Frage ist nur
noch: Warum?«
    »Wie ich sehe, befolgst du meinen Rat. Cherchez la femme «, sagte
Melba. »Und du glaubst also, eine der Witwen wird dir helfen, das
herauszufinden?«
    »Ich glaube, die zweite spielt eine Schlüsselrolle bei der
Aufklärung des Ganzen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die
wahren Hintergründe des Falls kennt.«
    Melba, die mitbekam, dass sich Samuel beim Sprechen zunehmend
nervöser nach Blanche umblickte, versuchte den Reporter zu beruhigen.
»Nur keine Panik, mein Lieber. Sie ist nur kurz weg, um sich was zu
essen zu holen. In zehn Minuten ist sie wieder zurück.«
    »Wer?«, fragte Samuel scheinheilig und bückte sich, um den
Hund zu streicheln, damit Melba sein Gesicht nicht sehen konnte.
    »Übrigens, was für ein Verhältnis hattest du eigentlich zu
deiner Mutter?«
    »Was ist denn das für eine Frage?« Samuel sah Melba
entgeistert an.
    »Du weißt doch, was die Psychologen sagen, Samuel: Männer sind
immer auf der Suche nach einer Frau, mit der sie eine ähnlich
neurotische Beziehung eingehen können, wie sie sie bereits mit ihrer
Mutter hatten. Das ist nämlich etwas, das sie kennen, und deshalb
fühlen sie sich in so einer Beziehung selbst dann wohl, wenn es ihnen
eigentlich schlechtgeht. Deine Mutter hat dich wohl genauso ignoriert
wie Blanche?«
    »Blanche ignoriert mich nicht!«
    »Natürlich nicht, sie spielt nur die Unnahbare, damit du sie
interessanter findest«, sagte Melba lachend.
    »Komm jetzt bitte nicht vom Thema ab«, sagte Samuel mit
hochrotem Kopf.
    »Hier geht es um etwas wesentlich Komplizierteres als eine
Frau, Samuel. Und damit meine ich diesen Fall, nicht Blanche.«
    »Hast du schon eine Idee?«
    »Nein, aber ich würde dir raten, den Anhaltspunkten, über die
wir gesprochen haben, weiter nachzugehen. In dieser Sache könnte alles
von Bedeutung sein, selbst wenn es auf den ersten Blick noch so
unwichtig erscheint. Und ganz besonderes Augenmerk solltest du auf
diesen El Turco richten. Wie lange wirst du in Paris bleiben?«
    »Vielleicht zwei Wochen, vielleicht kürzer. Das hängt ganz
davon ab, wie weit mir Lucine helfen kann. Ohne sie werde ich in Paris
nicht viel erreichen.«
    In diesem Moment erschien Blanche hinter dem Tresen –
sie war durch den Hintereingang hereingekommen. Jedes Mal, wenn Samuel
sie sah, fand er sie schöner als zuvor, obwohl sie diesmal ihr Haar
nicht gewaschen und deshalb zu einem schlappen Pferdeschwanz gebunden
hatte. Ihre Augen waren vom Rauch gerötet, und sie trug eine runde
Brille, mit der er sie noch nie gesehen hatte. Gerührt stellte Samuel
fest, dass er wieder einmal etwas Neues über seine große Liebe
herausgefunden hatte. Sie war kurzsichtig.
    Sie begrüßte ihn mit einem flüchtigen Winken und machte sich
hinter dem Tresen sofort an die Arbeit, um die Gäste zu
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