Geraubte Seele
es mir lieb war. Und schließlich musste ich zugeben, dass er recht hatte. Es war ekelhaft und krank. Nur weil ich bislang in meinem Alltag keine Gedanken zuließ und alle Erinnerung an die Treffen verdrängen konnte, fühlte ich mich nicht so. Nun machte er innerhalb weniger Sekunden das Ergebnis meines jahrelangen Verhaltens zunichte. Ich ekelte mich vor mir selbst und hielt mich für abartig. Und nur um dies zu erkennen, hatte ich auf das letzte Abendbrot verzichtet. Mir standen nun drei Tage Fasten bevor.
Ich war überfällig. Überfällig, mit meinem alten Leben abzuschließen und eine neue Richtung einzuschlagen.
Hatte ich mir am Anfang dieser Laufbahn nicht geschworen, spätestens nach dem Uni-Abschluss aufzuhören? Inzwischen hatte ich meinen Doktor in der Tasche und konnte es trotzdem nicht sein lassen. Zu allem Übel hielt ich mich selbst nicht an meine eigenen Regeln und traf mich mit ihm fast schon im Wochentakt. Ich vertröstete mich selbst von Mal zu Mal, denn ich wollte unbedingt mein Ziel erreichen. Aber es gelang mir nicht. Hätte mir damals einer dieser Männer, zu denen er mich schickte, etwas angetan, hätte er womöglich nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Und jetzt, da ich es nicht mehr erwarten konnte, dass er mir den Hahn abdreht, hörte er entweder im letzten Moment auf, mich zu quälen, oder zerrte mich wortwörtlich an den Haaren ins Leben zurück. Ich war ihm einfach nicht gewachsen. Nicht damals und offensichtlich auch heute nicht.
Nach jedem Treffen, nicht nur mit ihm, sondern auch mit anderen Männern, folgte er mir so weit quer durch die ganze Stadt, bis es mir schließlich gelang, ihn abzuschütteln. Beim nächsten Termin tat ich so, als wäre mir das nicht aufgefallen und er hatte dieses Thema auch noch nie angesprochen.
Ich konnte mir nicht erklären, was er von mir wollte. Jedes Mal gehörte ihm mein Körper volle zwölf Stunden. So wie allen anderen. Nur äußerst selten schöpfte er diesen Zeitrahmen voll aus. Meist beendete er die Session wesentlich früher. Manchmal schon nach nur wenigen Stunden. Deshalb glaubte ich nicht, dass er mir nachfuhr, weil er sich eine Verlängerung wünschte.
Seine Überweisungen kamen stets pünktlich. Nie hat er sich über die Höhe der Beträge beschwert. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es ihm ums Geld ging.
Die Termine mit ihm waren anstrengend. Er forderte sehr viel von mir. Von mir als Frau und auch als Mensch, psychisch und auch körperlich. Die anderen Männer brachten mich oft an meine Grenzen. Er trieb mich regelmäßig noch viel weiter und statt mich dort einfach liegen zu lassen, holte er mich manchmal sogar gegen meinen Willen zurück. Danach fühlte ich mich noch mieser, hasste mich selber für mein Versagen. Doch anstatt in Ruhe neue Pläne zu schmieden, musste ich mir jedes Mal etwas Neues einfallen lassen, um ihm beim nächsten Mal wieder entkommen zu können.
Warum nur liegt ihm so viel daran, herauszubekommen, wer ich bin und wo ich wohne?
Oft war ich zu erschöpft und schaffte es nicht, die Karte von der Tür abzuziehen und noch rechtzeitig im anderen Zimmer zu verschwinden. Dann musste ich aus dem Hotelzimmerfenster steigen und auf dem Sims balancieren, um ins andere Zimmer zu gelangen. Als ich beim letzten Mal über das Balkongeländer geklettert war, habe ich mich überschätzt und wäre beinahe in die Tiefe gestürzt. Ich war gesprungen und habe das andere Geländer fast verfehlt. Kurz zuvor hatte es geregnet, alles war nass. Meine Hände rutschten bis zum unteren Ende der Metallstäbe der Brüstung. Um mich hochzuziehen, fehlte mir die Kraft. Eigentlich hatte ich es dem starken Wind zu verdanken, dass ich nicht auf dem Bürgersteig, sondern auf dem Balkon in der Etage darunter landete. Dort versteckte ich mich hinter dem großen Blumentopf, in dem ein Buchsbaum in Form einer Kugel gepflanzt war. Nach kurzer Zeit hörte ich seine Schritte über mir, als er durch die Balkontür kam. Entweder hatte er sich eine zweite Karte besorgt, oder war einfach in das Zimmer eingebrochen.
Im Theater gegenüber fand eine Premiere statt. Der extra für diesen Abend aufgestellte Scheinwerfer schwenkte von einer Seite zur anderen. Als der grelle Lichtkegel über die Hotelfassade streifte, fiel sein Schatten vor meine Füße und ich zuckte erschrocken zusammen, als würde er persönlich plötzlich vor mir stehen. Ich zog dabei meine Knie bis zur Brust und wickelte mir meine blutigen Finger in mein Shirt. Die scharfen
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