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Fruehstueck mit Proust

Fruehstueck mit Proust

Titel: Fruehstueck mit Proust
Autoren: Frédérique Deghelt
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früher schon in ähnlichen Situationen das Bewusstsein verloren haben, nur hat niemand ein Drama daraus gemacht … Aber in meinem Alter gibt es keine Nachsicht mehr, und auch kein Erbarmen. Man lässt mir nichts mehr durchgehen. So ist das.
    Für den Moment freue ich mich, dass die Kleine mich holt. Es ist ein Zeichen des Himmels, dass ich weitermachen soll. Ich habe nicht die Kraft, mich aufzulehnen. Die hatte ich nie. Zweifellos ist das auch der Grund, warum ich während der Résistance nie in Verdacht geriet. Der Blick der anderen glitt einfach an mir ab. Ich war unsichtbar, gar nicht da. Ich kam schon alt und ergeben auf die Welt, heillos aufrichtig und brav.
    Gutmütig, wie ich bin, empfinde ich nicht einmal Wutauf meine Töchter. Als Jean und ich auf die sechzig zugingen, haben sie gesehen, dass wir, in demselben Alter, das sie heute haben, viel älter waren als sie. Sie wollen sich dem Lauf der Zeit widersetzen, dafür nehmen sie sogar in Kauf, mich zu verstoßen, als würde ich mit der Zeit unter einer Decke stecken.
    Meine hübsche Denise hat sich die Nase richten lassen. Sie hat den Kopf weggedreht, um meinem verblüfften Blick auszuweichen. Hat sie gedacht, ich würde es nicht bemerken? Wie könnte eine von einem Chirurgen fabrizierte Nase auch eine Mutter täuschen, die immerhin für das Original verantwortlich ist? Wie oft bin ich mit den Fingern über diesen Höcker gefahren, der ihr das Profil einer ägyptischen Statue gab. Ich habe nichts gesagt, aber die Anmut, die sie durch die Scham über ihre Nase mit einer jugendlich anmaßenden Schüchternheit ausstrahlte, ist verpufft in der Gewissheit, sich endlich von einem Makel befreit zu haben.
    Warum verändert ein Mensch sein Gesicht? Früher kam ein Mädchen oder ein Junge halt hübsch oder liebenswürdig oder mutig auf die Welt … War jemand eher tapfer als schön, tratschten die Nachbarinnen über die Unvollkommenheiten seines Gesichts oder seines Körpers. Aber im Grunde nahm man sein Schicksal an. Egal, ob hässlich oder schön, jung oder alt, man konnte lachen, und man konnte sich seines Daseins freuen, ohne jemandem lästig zu sein. Die Erinnerung daran, wie tolerant man doch war, macht mir die Ungerechtigkeit meiner jetzigen Situation noch stärker bewusst, aber soll ich mich dagegen auflehnen?
    Sie haben ihr eigenes Leben, und … Ich suche schon wieder Entschuldigungen für sie. Dass die Kleine michholen kommt, beweist, dass meine Töchter nicht den geringsten Versuch unternommen haben, mir zu helfen. Am Telefon wirkte Jade, als sei sie sich ihrer Sache sehr sicher, und wie sollte ich auch etwas ablehnen, das ich mir so sehr erhoffte? Möge ein guter Stern über die Freiheit meiner alten Tage wachen.

 
    I hre überstürzte Flucht würde diesem Tag eine besondere Note verleihen. Als Jade sie bat, nur die allernotwendigsten Kleider einzupacken, verspürte sie einen leichten Vorbehalt, aber die Dringlichkeit fegte ihn bald hinweg. Dass Mamoune einen Tag vor dem geplanten Umzug ins Pflegeheim heimlich ihr Häuschen verließ, kam einer Kriegserklärung an ihre Töchter gleich. Zumal es keine Diskussion gegeben hatte, in der sie ihre Unzufriedenheit über die getroffene Entscheidung hätte ausdrücken können. Ihr ganzes Leben war das ganze Gegenteil einer so unangekündigten, heftigen Rebellion gewesen. Jade hatte Angst, sie in eine Welt zu entführen, die nicht die ihre war. Sie war sich ihrer Sache keineswegs sicher. Sie kannte ihre Großmutter nur als besonnene und ruhige Frau, aber hatte Mamoune nicht selbst einmal gesagt, alles berge einen unwägbaren Teil in sich, alles könne sich plötzlich als befremdlich, also fremd erweisen?
    All dies ging Jade durch den Kopf, während sie unaufhörlich mit Mamoune redete.
    »Und die Wollsachen da drüben auf dem Bett, soll ich die auch einpacken?«
    »In Paris ist die Luft feuchter als hier. Du könntest auch deine Nachttischlampe mitnehmen, ich weiß doch, wie sehr du daran hängst. Und mach dir keine Gedanken, in meinem Auto ist genug Platz, ich möchte, dass du dich bei mir wie zu Hause fühlst. Nimm alles mit, was du magst.«
    Aus Angst, Mamoune könnte einen Moment des Schweigens nutzen, um zu kneifen, redete Jade ohne Unterlass. Mamoune trippelte von einem Zimmer ins nächste und schleppte Kleider und anderes Zeug herbei, das in den Koffer sollte. Sie klaubte ihre Sachen mit einer Emsigkeit zusammen, als ginge es darum, in Rekordzeit Indizien sicherzustellen. Als das Telefon klingelte,
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