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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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winkte ihm.
    »Komm«, sagte ihr Winken. »Komm. Du bist frei.«
    Und er wiederholte ihre Worte leise, für sich: »Ich bin frei.«
    Er selbst stand auf dem Sandweg, den er so oft entlanggegangen war, mit Iris, mit Siri, mit Carla Berg, mit Annelie. Iris’ Kleid strahlte ihm entgegen wie ein Fleck reinen Lichts.
    Er streckte die Hand aus.
    Ich komme, ich komme.
    Jetzt, endlich, gibt es keine Winter mehr. Ich werde nie mehr allein sein, nie mehr auf dich warten müssen. Wir werden für immer zusammenbleiben, für immer und jeden Tag und jede Stunde; für immer über diese Felder laufen, für immer am Wasser Schiffchen bauen, weit außerhalb der Schatten. Außerhalb der Wirklichkeit. Ich werde so unsichtbar sein wie du, das wird lustig, nur wir beide …
    Aber dann hörte er seinen Namen, jemand rief ihn. Lenz, Lenz. Er drehte sich um.
    Es war Siri. Sie stand dort, wo das Dorf begann, neben ihrem Auto, dem uralten Golf. Der Wind zerzauste ihr kurzes braunes Haar, das ein wenig länger geworden war in diesem Sommer, es hatte eine unkleidsame, unregelmäßige, zerzauste Länge wie das Gefieder eines nassen Vogels, und sie war noch immer zu dünn. Sie streckte die Hände nach ihm aus, und aus irgendeinem Grund wusste er, dass sie nicht zu ihm kommen konnte, sie konnte nur dort stehen und die Hände ausstrecken. Er war es, der sich entscheiden musste.
    Er wandte sich wieder um, zu Iris.
    Er hatte immer zu Iris gehört, von Anbeginn der Zeit.
    Er machte einen Schritt in ihre Richtung.
    Aber sie winkte nicht mehr. Sie drehte eine Strähne ihres blonden Lockenhaars um ihren Finger und sah ihn nur an, und obwohl sie so weit weg war, sah er etwas wie Traurigkeit in ihrem Blick. Dann hob sie die Hand – aber nicht zu einem Winken. Sie zeigte. Sie zeigte dorthin, wo Siri stand.
    Er schüttelte den Kopf. Nein, nein, du bist es, du, mit der ich gehen werde.
    Es war sicherer, dachte er, auf jeden Fall war es sicherer. Er würde hier bleiben, hier in diesem Land, an dieser Küste, die er so gut kannte, in diesen Wäldern, bei diesem Dorf.
    Wenn er mit Siri ging, war alles unsicher. Er konnte es nicht. Er konnte das Dorf nicht verlassen. Es war unmöglich, das Dorf war Teil von ihm, und er war Teil des Dorfes. Sie hatten ihn immer gebraucht, als Schuldigen, als Träger ihrer Schatten, als das ewige Kind. Sie brauchten ihn, auch jetzt, als Erinnerung, als Geschichte, als einen, der hier gelebt hatte.
    Iris schüttelte den Kopf. Sie zeigte noch immer.
    Und er spürte in sich ein Ziehen und Sehnen. Sie hatte recht. Alles in ihm wollte sich umdrehen und rennen, auf Siri und den alten Golf zurennen, vergessen, wo er gebraucht wurde.
    »Du bist frei«, hatte Iris gesagt – oder hatte er das nur gedacht? Du bist frei.
    Als er das dachte, machte sie einen Schritt zurück. Und noch einen. Und noch einen. Und begann wieder, sich aufzulösen, wie auf den Klippen.
    »Geh«, hörte er sie sagen, in seinem Kopf, ganz nah. »Geh, Lenz. Ich werde dich vermissen. Ich werde allein sein. Aber es macht nichts. Ich höre auf, überhaupt zu sein, wenn du gehst. Geh.«
    »Nein!«, rief er. »Nein! Bleib doch! Ich will nicht, dass du verschwindest! Ich habe dich so lange am Leben gehalten! NEIN !«
    Das Letzte, was er von Iris sah, war das blaue Leuchten des Kleides, das ihr beim Klettern auf Bäume immer hinderlich gewesen war.
    Er öffnete die Augen, blinzelte durch einen feinen Film aus Überresten von Blut und Schmutz und blickte in Siris Gesicht.
    Er lag auf dem Boden der Kirche, den Kopf auf Siris Knien. Der geblümte Mantel lag neben ihm.
    Sie fing an zu heulen, als er sie ansah, völlig hemmungslos. Es machte ihr Gesicht nicht schöner.
    Es war schön genug.
    »Du bist …«, sagte er, aber die Worte ließen sich nicht richtig aussprechen, seine Stimme klang heiser und zerquetscht, und es tat weh, zu sprechen.
    »Zurückgekommen«, sagte Siri zwischen ihren Tränen. »Wir kommen alle zurück. Winfried hat es gewusst. Und du … bist auch zurückgekommen. Ich dachte, du wärst … ich war mir sicher … ich habe alles falsch verstanden, aber jetzt, jetzt habe ich ein paar Dinge erfahren … von Annelie …«
    Sie zog ihn auf die Beine, ohne dass mehr gesagt wurde.
    Annelie, dachte er vage; die ganze Welt war noch vage um ihn. Er sah sie vor sich, Annelie in ihrem Schaukelstuhl, auf der Veranda, er spürte die Erinnerung an ihre schmetterlingsleichte Hand in seinem Haar … was hatte sie Siri gesagt? Annelie hätte alles gesagt, um ihn zu
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