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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino
Autoren: Selim Özdogan
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verstanden habe, wie sehr sich die Welt meiner Mutter von der Welt anderer Menschen unterschied. Nicht etwa, weil sie verrückt gewesen wäre. Nein, sie war gerade. Meine Großeltern, ihre Lehrer, der Staat, niemand hatte sie zur Vernunft bringen können. Sagten sie. Nur: Zu wessen Vernunft wollten sie sie denn bringen?
    Damals hatte ich nach der Schule frei, später im Studium manchmal auch noch. Doch danach gab es keinen Feierabend mehr. Meine Mutter hatte Recht gehabt. Danach gab es nur doch das Feiern. Es gab nur nichts zu feiern. Das sagten wir nur so, wenn wir Drogen nahmen. Feiern. die letzten drei Sätze finde ich sprachlich schief. Eine wirklich gute Lösung fällt mir aber auch nicht ein. Vielleicht so: Statt Feierabend gab es nur noch das Feiern. Aber da war nichts, was wir feiern konnten. Wir sagten das nur so, wenn wir Drogen nahmen.
     
     

Welcher Käfig
    Die Bilder, fast nur die Bilder blieben später übrig. Die Bilder und die Erinnerung an die feuchte, heiße Luft, die sich auf ihren Körper legte, als wollte sie noch etwas anderes als Schweiß aus ihr herauspressen.
    An die Angst konnte sie sich nicht mehr richtig erinnern. Sie wusste, sie war da gewesen, eine albtraumhafte Angst, aber die Person, die diese Angst erlebt hatte, schien ihr weit weg. Es war jemand, von dem sie sich in den vergangenen fünf Jahren weit entfernt hatte.
    Dabei dachte sie gerne an die Zeit, die sie als Entwicklungshelferin im bolivianischen Tiefland verbracht hatte, in Rurrenabaque, einem kleinen Dorf, das viele Touristen als Ausgangspunkt für Dschungeltouren nutzten.
    Sie war schon vorher in Südamerika gewesen, sie konnte leidlich Spanisch, sie mochte das tropische Klima des Tieflandes, ihr gefiel die Vorstellung, ein ganzes Jahr dort zu verbringen, umgeben von Palmen, von Bananen-, Mango-, und Brotfruchtbäumen.
    Wenn sie auf die Hügel stieg, stillte das satte Grün den Hunger ihrer Augen. Sie hatte Samen mitgebracht, Basilikum, Rucola, Rosmarin und Thymian, alles keimte und wuchs dann beeindruckend schnell, auch der Jiaogulan trieb aus, das war ihr zu Hause nicht geglückt. Sie war frei von den Zwängen der Heimat, sie war weit weg von Verkehrslärm, Beton und Konsumterror. Es gab nicht mal immer Milch in dem kleinen Supermarkt.
    Sie teilte sich ein Haus mit einer Mitarbeiterin des Entwicklungsdienstes, die schon länger in Bolivien war als sie. In den ersten Tagen empfand sie alle Geräusche als irritierend. Sie wusste nie, ob ein Laut von drinnen oder von draußen kam. Da die Fenster keine Scheiben hatten, schien der Schall aus dem Nebenzimmer durch das eine Fenster nach draußen und von dort über das andere Fenster wieder nach innen zu dringen.
    Keines der Häuser im Ort hatte Fensterscheiben, es gab häufig Moskitonetze und manchmal zusätzlich noch Eisengitter, um sich vor Einbrechern zu schützen, doch niemand brauchte in diesem Klima Glas. Das Haus der beiden war mit Eisenstäben vergittert, die unten bauchig gebogen waren und oben in Spitzen endeten.
    In den ersten Wochen wachte sie häufig nachts auf, weil der Nachbar betrunken nach Hause kam und dann seine Frau anschrie. Schlaftrunken, wie sie war, verließ ihr Spanisch sie dann, sie konnte nur wenige der verwaschenen Wörter verstehen. Dann gewöhnte sie es sich an, mit Ohrstöpseln zu schlafen. Ohrstöpsel, Slip und ein dünnes Laken, so legte sie sich abends ins Bett. So schwitzte sie jede Nacht.
    Sie las in der Anfangszeit manchmal in dem Buch über Tropenkrankheiten, das man ihr mitgegeben hatte, sie las von den Würmer, die sich in die Fußsohlen fraßen, und von denen, die an beliebigen Körperstellen unter der Haut lebten und deutlich als Beulen sichtbar waren, sie las, dass es normal war, dass Haare und Nägel schneller wuchsen. Auch mit den Hormonen schien etwas zu geschehen in diesem Klima, doch darüber stand nichts im Buch. Sie war leise, wenn sie abends die Feuchtigkeit der Luft mit ihrer eigenen vermählte. Sie hatte das Gefühl zu bersten, weil sie alle Laute in sich hineinsaugte, und sogar das leichte Schmatzen, das ihre Finger manchmal verursachten, kam ihr ohrenbetäubend vor, bis sich schließlich alles in stillen Wellen entlud.
    Mit den Scheiben fehlte auch ein Stück Privatsphäre, vor den Blicken wurde sie durch Vorhänge geschützt, vor fremden Ohren gab es keinen Schutz.
    Sie gewöhnte sich an den Anblick von Kakerlaken und Vogelspinnen, sie gewöhnte sich daran, dass sie nachts aufwachte, weil ein Insekt auf ihrer Haut
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