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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett
Autoren: Ulrich Ritzel
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der Mama die Jeans und die übrigen blutverschmierten Sachen waschen lassen, damit es keinen Ärger mit der Polizei gab, und sich ins Bett gelegt und gut geschlafen, während der Obdachlose unten in den Anlagen noch ein paar Stunden zu leben oder genauer: zu sterben gehabt hatte, bis er an seinen inneren Verletzungen verblutet war.
    »Was geht denn mich das an, wann der krepiert ist?«
    So gab es der junge Mann zu Protokoll, als es dann doch Ärger mit der Polizei gegeben hatte und Tamar ihn nach seiner Festnahme verhörte. Und was hatte die Jugendgerichtshilfe dazu mitzuteilen? Nein, hatte die Jugendgerichtshilfe gemeint, da hat es wohl zwei Freizeitarreste gegeben, aber von schädlichen Neigungen des 17jährigen sei ihr nichts bekannt, und im Übrigen handle es sich doch wohl nur um Körperverletzung mit Todesfolge …
    Du sollst nicht urteilen, dachte die Kommissarin, schloss die Augen und massierte sich die Schläfen. Als sie ihre Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf den Brief, der noch immer auf ihrem Schreibtisch lag. Warum warf sie ihn nicht weg? Es war lächerlich, ihn da liegen zu lassen.
    Sie zog den Brief zu sich her und betrachtete einen Augenblick lang den auf die Rückseite geklebten Zettel: Abs.: Kai Habrecht. Sie nickte und riss den Umschlag auf. Er enthielt nichts weiter als den vergrößerten Abzug einer Schwarzweißfotografie, die für Tamar so aussah, als sei sie mit einem Teleobjektiv gemacht worden. Die Fotografie zeigte eine Gruppe: drei Frauen, die auf den Steinstufen vor einem Denkmal saßen, die eine von ihnen - die in der Mitte saß - hatte eine Tüte Eis in der Hand und bot sie einer zweiten Frau an, deren Haar auffällig kurz geschnitten war und die eine viel zu knappe Jacke aus dem Imitat eines Leopardenfells trug. Die dritte Frau, die den beiden zusah, war deutlich größer als die anderen, sie trug Jeans und eine eng sitzende Lederjacke. Ihr Gesicht war ruhig, entspannt, fast fröhlich.
    Die Kommissarin stand auf und ging ans Fenster, von dem aus man über die Häuser an der Donau sah.
    Es kommt näher, dachte sie. Schon heute Morgen habe ich es gewusst.
    »Mädchen, was hast du da?«, fragte eine Stimme in ihrem Rücken.
    Tamar hob unwillig den Kopf. »Du sollst anklopfen, bevor du bei mir reintappst.«
    »Lass sehen«, beharrte Blocher.
    »Bitte!« Sie hielt ihm den Abzug hin. Er nahm ihn und betrachtete ihn mit ausgestrecktem Arm, denn mit den Jahren war er weitsichtig geworden, so wie auch seine früher blonde Haarmähne längst weißgelb ausgeblichen war.
    »Nettes Foto«, sagte er schließlich. »Bei uns schaust du nie so … War das im Urlaub?«
    »In Krakau, im Juli.«
    »Und die da?« Es war nicht genau zu erkennen, worauf sein dicker Finger zeigte.
    »Das sind die Füße von Adam Mickiewicz, und der ist oder war ein Dichter.«
    »Du weißt genau, was ich meine. Die beiden da, sind das Freundinnen von dir?«
    »Die eine hatten wir im Zeugenschutzprogramm«, antwortete Tamar. »Die andere... ach, das verstehst du nicht, alter Mann.«
    »Und wer hat das Foto gemacht?«
    Statt einer Antwort wies sie auf den Umschlag. Er nahm ihn und musste diesmal seine Brille herausholen und aufsetzen, um den Absender zu lesen. Es war eine randlose Brille, und sie gab ihm ein merkwürdig zerbrechliches Aussehen.
    »Kai Habrecht? Muss ich den kennen?«
    »Kaum«, antwortete Tamar. »Habrecht ist seit sechs Jahren tot.«
     
     
     
    E r war an einer Kreuzung angekommen, wohin jetzt? Ein Wegweiser zeigte zur Autobahn nach Krakau, ein anderer zum Dworzek Glowny. Man soll in diesem Land nicht mit der Eisenbahn fahren, hatte ihm jemand gesagt, noch in Krakau war das gewesen, und die Pensionswirtin mit dem hurtigen Blick hatte ihm gestern immerhin eine Busverbindung herausgesucht, es gab eine, da wäre er am nächsten Morgen in Hamburg, was immer er dort tun wollte.
    Aber das brauchte ihn jetzt nicht mehr zu kümmern. Man hatte ihm den Bus empfohlen, also würde er den Zug nehmen, irgendeinen, wie hieß die Stadt gegenüber von Görlitz?
    Das Hinweisschild zum Hauptbahnhof hatte sich an die Autofahrer gerichtet, also müsste es für Fußgänger einen direkteren Weg geben, nur wollte er niemanden danach fragen, war das schon paranoid? Dass man niemanden fragen will, weil man Angst hat, der geht zur Polizei und sagt, da hat sich der und der nach dem Weg zum Bahnhof erkundigt? Unsinn. Es war keine Angst, es war Vorsicht. Aber die Panik kehrte zurück, er spürte es auf der Haut, als ob sie ein Wesen
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