Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche
Autoren: Monika Maron
Vom Netzwerk:
Ausnahme: ein Undankbarer, der den Orden für verdient hält statt für geschenkt, der auch darauf hätte verzichten können, weil er sich und seine Arbeit schon vorher hoch schätzte.
    Morgen fahre ich nach B. »Kuck mal. Mach mal«, hat Luise gesagt in ihrem gedehnten Berliner Dialekt. In solchen Fällen bin ich nie sicher, ob sie einfach keine Lust hat, ihren Kopf für mich zu bemühen, oder ob sie an diesem Tag Absprachen jeder Art ohnehin für nutzlos hält. Oder aber sie vertraut mir in solchem Augenblick bedenkenlos.
    Sie sah mich ermutigend, beinahe liebevoll an. In ihrem von Falten und Fältchen karierten Gesicht verblüfften mich wieder einmal die blauen Kinderaugen: »Fahr mal. Mach mal.«
    Ich packe meinen Koffer, seit sechs Jahren jeden Monat einmal. Zwei Paar Jeans, vier Blusen, Wäsche, Bücher. Das obligate Telefongespräch mit meiner Mutter, ja, sie holt den Sohn morgen aus dem Kindergarten, bis Donnerstag also. Ja, den Pullover zum Wechseln gebe ich ihm mit.
    Ich müßte in den Keller gehen, Kohlen holen. Wenn ich am Donnerstag komme, ist die Wohnung kalt, und ich bin müde. Aber das Licht in meinem Keller brennt nicht, und ich graule mich zuweilen. Eine unbestimmte Furcht, Kindheitsgruseln, das aber Herzklopfen verursacht und verkrampfte Schultern, das mich den Kopf einziehen läßt. Bis Donnerstag ist lang, laß es kalt sein.
    Ich müßte etwas essen.
    Dienstreisen bereiten mir Heimweh, ehe ich überhaupt abgefahren bin. Drei Tage oder vier in einer fremden Stadt, immerzu Türen, hinter denen fremde Menschen sitzen. »Guten Tag, mein Name ist Josefa Nadler, ich komme von der Illustrierten Woche …« Erlebnisse, Eindrücke, Bestürzendes, und keiner, mit dem ich es teilen, dem ich es auch nur mitteilen könnte. Spätestens nach einem Tag beneide ich alle Leute auf der Straße, die offenbar einander näher kennen. Vielleicht mögen sie sich gar nicht, aber sie kennen sich.
    Ich gucke gierig in alle Fenster, hinter denen Familien Abendbrot essen, die Münder zum Sprechen bewegen und aussehen wie Leute im Fernsehen, denen man die Stimme weggedreht hat.
    Ich beobachte mit wachsender Wehmut, wie vor Kinos Zweifüßer zu Vierfüßern verschmelzen, lachen und rauchen. Ich würde auch gerne rauchen, aber eine Frau allein auf der Straße mit einer Zigarette? In Ungarn vielleicht oder in Paris.
    Manchmal frage ich nach einer Straße oder nach der Zeit, nur um sprechen zu können.
    Meine innigsten Verbündeten werden die Überlebensgroßen, die Steinernen, die berühmten Toten der Stadt, die einzigen Stummen außer mir. Meine letzte Rettung: die Verlassenheit zum Genuß steigern, die höchste Stufe der Einsamkeit erklimmen: ich, die Verlorenste der Menschen.
    Ich sollte es nutzen, daß ich zu Hause bin. Das Telefon steht griffbereit vor mir auf dem Tisch. Ich nehme den Hörer ab, um zu kontrollieren, ob das künstliche Herz unserer Kommunikation auch schlägt. Aber offenbar will niemand mit mir sprechen. Ich drehe den Filter meiner Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen, betrachte die Struktur der Fasern, schnippe die Asche ab, die nicht da ist.
    Diese dreimal verfluchte Warterei. Worauf denn?
    Auf den berühmten Märchenprinzen, der klingelt: Guten Tag, schöne Frau, Sie fahren morgen nach B. und fürchten sich vor der Einsamkeit? Bitte erweisen Sie mir die Huld und verfügen Sie über mich.
    Bleibt der Ausweg der Trostlosen. Ich hole mein Bett aus der Truhe, beziehe es frisch, stelle eine Vase mit einer welken Rose daneben, ziehe mein schönstes und längstes Nachthemd an – ein sinniges Geburtstagsgeschenk der Frau Mama für ihre dreißigjährige Tochter. Für eine Leidende sehe ich zu frisch aus. Ich schminke mir eine angemessene Blässe auf die Haut, die Lider etwas dunkler, verbrauche den Rest meines besten Parfüms und betrachte mich im Spiegel, wohlgefällig, mißtrauisch, voller Schadenfreude gegen Märchenprinzen und andere. Das haben sie davon. Eines Tages ist das vorbei, und sie haben es nicht gesehen. Ich gieße ein Glas Rotwein ein, stelle es wie einen Gifttrunk behutsam neben die Rose und lege mich ins Bett wie Schneewittchen in den Sarg.

    Ach, Luise, du warst klug wie immer. Du hast gewußt, warum du mich mit Optimismus und Arbeitsfreude gepolstert hast, ehe du mich in dieses jammervolle Nest schicktest. Diese Schornsteine, die wie Kanonenrohre in den Himmel zielen und ihre Dreckladung Tag für Tag und Nacht für Nacht auf die Stadt schießen, nicht mit Gedröhn, nein, sachte wie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher