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Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie

Titel: Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
Autoren: Alan Bradley
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geklaut hab.«
    In meinem kurzen Leben war ich, als jüngste von drei Schwestern, wohl oder übel zu einer Meisterin der gespaltenen Zunge geworden.
    »In der Schublade ist er nicht. Da hab ich eben erst nachgeschaut.«
    »Hast du die Brille aufgehabt?«, fragte ich feixend.
    Obwohl uns Vater alle drei mit Brillen ausgestattet hatte, weigerte sich Feely hartnäckig, ihre aufzusetzen, und meine enthielt kaum mehr als Fensterglas. Ich trug sie fast nur im Labor, als Augenschutz, und sonst hin und wieder auch mal, um Mitleid zu erregen.
    Feely schlug auf den Tisch und stürmte in ihr Zimmer.

    Ich widmete mich seelenruhig wieder den unergründlichen Tiefen meiner zweiten Schüssel Weetabix.
    Später schrieb ich in mein Notizheft:
    Freitag, 2. Juni 1950, 9.42 Uhr. Verhalten der Versuchsperson normal, wenn auch missmutig. (Aber so ist sie eigentlich immer.) Eintritt der Wirkung kann zwischen 12 und 72 Stunden betragen.
    Ich konnte warten.
    Mrs Mullet, die untersetzt und grau und rund wie ein Mühlstein war und die, da bin ich mir sicher, sich für eine Gestalt aus einem Gedicht von A. A. Milne hielt, war in der Küche mit einem ihrer eitergelben Schmandkuchen beschäftigt. Wie gewöhnlich kämpfte sie mit dem riesigen AGA-Herd, der die kleine, vollgestopfte Küche schier erschlug.
    »Ach, du bist’s, Miss Flavia! Hilf mir doch bitte mal mit dem Herd, mein Schatz.«
    Noch ehe mir eine passende Erwiderung einfiel, stand Vater hinter mir.
    »Ich muss dich kurz sprechen, Flavia.« Sein Ton war gewichtig wie die Bleistücke an den Stiefeln eines Tiefseetauchers.
    Ich schielte zu Mrs Mullet hinüber. Die pflegte sich nämlich beim kleinsten Anzeichen von Missstimmigkeiten aus dem Staub zu machen. Einmal hatte sie sich sogar, als Vater die Stimme erhoben hatte, in einen Teppich eingerollt und sich geweigert, wieder herauszukommen, bis man nach ihrem Mann geschickt hatte.
    Sie schloss die Backofentür so behutsam, als wäre sie aus kostbarstem Kristallglas.
    »Ich muss los«, verkündete sie. »Das Mittagessen steht in der Wärmeklappe.«
    »Vielen Dank, Mrs Mullet«, sagte Vater. »Das kriegen wir schon hin.« Wir kriegten es immer hin.

    Sie öffnete die Küchentür - und stieß unvermittelt einen Schrei aus wie ein in die Enge getriebener Dachs.
    »Ach herrje! Entschuldigen Sie vielmals, Colonel de Luce, aber … um Himmels willen!«
    Vater und ich mussten uns an ihr vorbeidrängeln.
    Es war ein Vogel. Eine Zwergschnepfe. Und zwar eine tote. Sie lag rücklings auf der Treppe, die steifen Flügel wie ein kleiner Flugsaurier ausgebreitet, die Augen mit einem ziemlich unschönen Film überzogen, und der lange schwarze nadelartige Schnabel zeigte senkrecht in die Luft. Etwas war darauf aufgespießt und wehte im Morgenwind - ein Fitzelchen Papier.
    Nein, kein Papierfitzelchen, sondern eine Briefmarke.
    Vater bückte sich und rang plötzlich nach Luft. Er griff sich an die Kehle, seine Hände zitterten wie Espenlaub im Herbst, und sein Gesicht war aschfahl.

2
    E s überlief mich, wie es so schön heißt, eiskalt. Erst dachte ich, er hätte einen Herzanfall, wie es Vätern mit sitzender Lebensweise öfters passiert. Eben noch bläuen sie dir ein, du sollst jeden Bissen mindestens neunundzwanzigmal kauen, am nächsten Tag stehen sie schon im Daily Telegraph:
    Calderwood, Jabez, wohnhaft in The Parsonage, Frinton. Samstag, den 14ten d. Monats, mit zweiundfünfzig Jahren plötzlich verstorben … Ältester Sohn von etcetera … etcetera … hinterlässt die Töchter Anna, Diana und Trianna …
    Calderwood, Jabez und seinesgleichen haben die Angewohnheit, aus heiterem Himmel in ebenjenen aufzufahren und etliche untröstliche Töchter zurückzulassen, die von Stund an allein zurechtkommen müssen.
    Hatte ich nicht selbst schon ein Elternteil verloren? Vater würde doch gewiss nicht derart gemein sein!
    Oder doch?
    Nein. Schon schnaufte er wieder geräuschvoll wie ein Droschkengaul und streckte die Hand nach dem toten Federvieh aus. Seine langen, blassen Finger zupften die Briefmarke wie eine Pinzette von dessen Schnabel, dann steckte er den durchlöcherten Schnipsel rasch in die Westentasche. Anschließend deutete er mit dem zittrigen Zeigefinger auf den kleinen Kadaver.
    »Schaffen Sie das Vieh weg, Mrs Mullet!«, sagte er mit einer
erstickten Stimme, wie ich sie gar nicht von ihm kannte - er klang wie ein Fremder.
    »Oje oje, Colonel de Luce«, erwiderte Mrs Mullet.«Oje oje, Colonel … ich kann doch nicht … ich glaube … ich
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