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Fillory - Die Zauberer

Fillory - Die Zauberer

Titel: Fillory - Die Zauberer
Autoren: Lev Grossman
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reichhaltigen Sortiment. Quentin griff über die Reihen der leise klirrenden Flaschen hinweg, bis er das trockene, raue Sperrholz der Rückwand fühlte. Nur zur Sicherheit. Es gab nicht nach, besaß nichts Magisches. Er schloss die Tür, und sein Gesicht brannte vor Scham in der Finsternis. Als er sich umschaute, um sicherzugehen, dass wirklich niemand ihn beobachtet hatte, sah er den Toten auf dem Fußboden.
     
    Eine Viertelstunde später war die Eingangshalle voller Menschen in hektischer Betriebsamkeit. Quentin saß in einer Ecke, in dem Korbstuhl, wie ein Sargträger auf der Beerdigung eines ihm unbekannten Verstorbenen. Er presste den Hinterkopf fest gegen die kühle, harte Wand. James stand neben ihm. Er schien nicht zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Sie vermieden es, sich anzusehen.
    Der alte Mann lag rücklings auf dem Boden. Sein imposanter Bauch ragte rundlich empor, sein Kopf war von wirren grauen Wuschelhaaren umkränzt. Drei Rettungssanitäter hockten neben ihm, zwei Männer und eine Frau. Die Frau war umwerfend, fast unpassend hübsch – ein schriller Kontrast zu der grausigen Szenerie, eine glatte Fehlbesetzung. Die Sanitäter erledigten ihre Arbeit, aber nicht so klinisch-routiniert und blitzschnell wie bei einem lebensrettenden Einsatz. Hier standen sie vor einer anderen Aufgabe, der obligatorischen, aber von vornherein vergeblichen Wiederbelebung. Schließlich murmelten sie leise, packten ihre Utensilien zusammen, rissen Klebestreifen ab, verstauten benutzte Nadeln in einem speziellen Behälter.
    Mit einer geübten, kräftigen Bewegung zog einer der Männer den Beatmungsschlauch aus der Leiche. Der Mund des alten Mannes stand offen und Quentin konnte seine leblose graue Zunge sehen. Er roch etwas, von dem er sich zunächst nicht eingestehen wollte, dass es der schwache, bittere Geruch von Kot war.
    »Schrecklich«, sagte James, nicht zum ersten Mal.
    »Ja«, krächzte Quentin. »wirklich schrecklich.« Seine Lippen und Zähne fühlten sich taub an.
    Solange er sich nicht bewegte, konnte ihn niemand weiter in diese Sache hineinziehen. Er versuchte, ruhig zu atmen und sich still zu verhalten. Er blickte starr geradeaus und weigerte sich, die Vorgänge im Arbeitszimmer genauer zu beobachten. Er wusste, er bräuchte nur James anzuschauen, und er würde seinen eigenen seelischen Zustand in ihm widergespiegelt sehen. Ein unendlicher Korridor der Angst, der nirgendwohin führte. Wann sie wohl gehen durften? Er schämte sich, weil er uneingeladen in das Haus eingedrungen war, als habe dies in irgendeiner Weise den Tod des Mannes verursacht.
    »Ich hätte ihn nicht als pädophil verdächtigen dürfen«, sagte Quentin reumütig. »Das war nicht richtig.«
    »Nein, ganz und gar nicht richtig«, bekräftigte James. Sie redeten langsam, als müssten sie das Sprechen neu erlernen.
    Die Sanitäterin erhob sich. Quentin beobachtete sie dabei, wie sie sich reckte, die Handballen in den unteren Rücken stützte und ihren Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite drehte. Sie kam auf sie zu und streifte unterwegs die Gummihandschuhe ab.
    »Also«, verkündete sie in lockerem Tonfall, »er ist tot!« Ihrem Akzent nach war sie Engländerin.
    Quentin räusperte sich. Er hatte einen Kloß im Hals. Die Frau warf die Handschuhe quer durch das Zimmer und traf genau den Mülleimer.
    »Was ist denn mit ihm passiert?«, fragte Quentin.
    »Er scheint eine Hirnblutung gehabt zu haben. Ein schöner Tod, wenn man schon sterben muss. Und er musste wohl. Vermutlich war er Alkoholiker.«
    Sie deutete eine Trinkbewegung an.
    Ihre Wangen waren gerötet, weil sie so lange über der Leiche gekauert hatte. Sie konnte höchstens fünfundzwanzig sein und trug eine dunkelblaue, ordentlich gebügelte Hemdbluse, bei der einer der Knöpfe nicht passte: eine Stewardess auf dem Anschlussflug zur Hölle. Quentin wünschte, sie wäre nicht so begehrenswert gewesen. Irgendwie war es so viel leichter, mit unattraktiven Frauen umzugehen – man ersparte sich den Schmerz ihrer eventuellen Unerreichbarkeit. Aber sie war nicht unattraktiv. Sie war blass und dünn und irritierend schön, mit einem breiten, überaus sinnlichen Mund.
    »Hm.« Quentin wusste nicht, was er sagen sollte. »Das tut mir leid.«
    »Was tut Ihnen leid?«, fragte sie. »Haben Sie ihn umgebracht?«
    »Nein, ich bin wegen eines Aufnahmegesprächs hier. Er hat die Vorstellungsrunden für Princeton geleitet.«
    »Also, worüber regen Sie sich auf?«
    Quentin
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