Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
zu seinem Modell. Man muss ein Modell mögen, sonst kann man keine Kleider für es entwerfen. Es reicht nicht, wenn es gut aussieht.“
    „Du möchtest Kleider für mich entwerfen?“
    „Wenn ich darf.“
    Seine Offenheit gefiel ihr. Sie wusste sofort, um was es ihm ging. Es hatte etwas mit ihrer Jugend zu tun und damit, dass man ihm offenbar vorwarf, keine Mode für junge Leute mehr kreieren zu können. Sie würde viel weniger sein Modell als seine Muse sein, seine Inspiration, ein Versuch, zurückzukehren zu den Quellen seiner Kreativität.
    Sie sagte ihm, dass sie einige Wochen bei ihm bleiben könne, und sie nahm sich vor, in dieser Zeit keine Karte an ihre Eltern zu schreiben.
    Sie kauften bei einem Bauern einen prächtigen Truthahn, und MacNorras schleppte ihn nach Hause. Kaum hatte er ihn seiner Köchin überantwortet, nahm er das Mädchen mit auf eine der Terrassen und begann Filzstift-Skizzen auf einen riesigen Block zu werfen, Dutzende, in unglaublicher Geschwindigkeit.
    Dann zerriss er, was er gezeichnet hatte, lachte und meinte: „So, das waren die schlechten. Jetzt können die guten kommen.“
    Mittagessen gab es keines. Nach schottischer Art wurde am frühen Nachmittag ein Tee mit Shortbread serviert. Der Truthahn kam am Abend auf den Tisch. Nevin hatte dazu ein paar Freunde eingeladen, die ebenfalls in der Modebranche arbeiteten.
    „Sie wohnen beim besten Modedesigner Großbritanniens“, meinte einer von ihnen augenzwinkernd, als sie beim Dessert saßen.
    „Es ist mir eine Ehre.“ Das vornehme Abendkleid, in das er sie verpackt hatte, machte, dass sie redete wie eine feine Dame. Sie konnte sich nicht vorstellen, auch nur ein einziges Mal „Mist“ zu sagen, solange sie in dieser märchenhaften Umhüllung steckte. Sie kam sich vor, als hätte sie die weibliche Hauptrolle in einem dieser Schmachtfetzen über englische Adlige, und es bereitete ihr Spaß.
    Der zweite Tag rüttelte ein wenig an diesem Image, aber auch das machte Laune. Nevin experimentierte mit verrückten Dingen an ihr, hüllte sie in lange, gerade geschnittene Stoffbahnen, setzte ihr merkwürdige Kunstobjekte auf den Kopf oder zog ihr einen Gymnastikanzug an, bestrich ihn mit Kleister und ließ sie in ein Bassin voller Verpackungsmaterial springen.
    „Wie findest du dich?“, fragte er sie, während er ihr die Bilder aus seiner Sofortbildkamera zeigte.
    „Like shit“, antwortete sie derb, und er stieß ein dröhnendes Lachen aus.
    Nie hätte Mama gedacht, dass er so viele widersprüchliche Seiten in sich vereinte, und sie sah ihn und seine Arbeit mit neuen Augen. Auch wenn sie viel miteinander lachten – jeden Tag arbeitete er zehn Stunden lang hochkonzentriert und mit beinahe verbissener Miene, peitschte sich zu neuen Ideen an, jagte von einem Einfall zum nächsten.
    Nach fünf Tagen legten sie eine Pause ein und machten eine kleine Spritztour mit dem Auto. Mama entdeckte an einem Kiosk eine Boulevardzeitschrift mit einem Foto von den mit roter Farbe bespritzten Gästen auf Dunsteys Party.
    „Nevin“, sagte sie. „Diese Frau, diese Verrückte … was wollte sie deiner Meinung nach mit diesem Auftritt bezwecken?“
    Er erwiderte nichts – was ungewöhnlich war, denn normalerweise bemühte er sich, ihr auf alles eine Antwort zu geben.
    Das Mädchen ließ nicht locker. „Ist sie so etwas wie diese … Naturschützer, die aus Protest Pelzmäntel zerschneiden und die Fenster von Firmen einwerfen, die für ihre Produkte Tierversuche durchführen? Oder war das mehr eine persönliche Racheaktion an Dunstey?“
    „Ich weiß nicht“, meinte er leise. Es klang nicht überzeugend.
    „Sie hat dich einen Moment lang angesehen“, sagte Mama. „Ich denke, sie kennt dich.“
    „Viele Leute kennen mich – aus der Presse.“ Er sah zur Seite.
    „Du verheimlichst mir etwas.“
    „Sind wir miteinander verheiratet, dass ein Mann keine Geheimnisse haben darf?“ Zum ersten Mal hob er die Stimme und herrschte sie an. Dabei hatte er sich noch unter Kontrolle, schüttelte unwillig den Kopf über sich selbst und entschuldigte sich sofort wieder bei ihr. Er kaufte ihr sogar das Magazin.
    Mama fand jedoch nicht den Mut, ihn auf die grüngekleideten Menschen anzusprechen, die er Sith genannt hatte.
    The old people.

4
    Das Wartezimmer des Arztes war voll von Patienten, die unglücklich in den medizinischen Zeitschriften blätterten, als suchten sie darin vergeblich die reißerischen Artikel und grinsenden Busenschönheiten, die sie aus der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher