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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Franz Kafka
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reiten, ohne zu fürch-
    ten, daß von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen schon die
    Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen
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    solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht."

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    Franz Kafka: Erzählungen

    - 121 -
    DAS URTEIL

    - Eine Geschichte -

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    Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr.
    Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Pri-
    vatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten
    Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur
    in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er
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    hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindlichen
    Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Lang-
    samkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch ge-
    stützt, aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die An-
    höhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün.
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    Er dachte darüber nach, wie dieser Freund, mit seinem
    Fortkommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach
    Rußland sich förmlich geflüchtet hatte. Nun betrieb er ein Ge-
    schäft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen
    hatte, seit langem aber schon zu stocken schien, wie der
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    Freund bei seinen immer seltener werdenden Besuchen klagte.
    So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos ab, der fremdartige
    Vollbart verdeckte nur schlecht das seit den Kinderjahren
    wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich
    entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. Wie er erzählte,
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    hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie
    seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen
    Verkehr mit einheimischen Familien und richtete sich so für ein
    endgültiges Junggesellentum ein.
    Was wollte man einem solchen Manne schreiben, der sich
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    offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber
    nicht helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder
    nach Hause zu kommen, seine Existenz hierherzuverlegen, alle
    die alten freundschaftlichen Beziehungen wiederaufzunehmen
    wofür ja kein Hindernis bestand und im übrigen auf die Hilfe
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    der Freunde zu vertrauen? Das bedeutete aber nichts anderes,
    als daß man ihm gleichzeitig, je schonender, desto kränken-
    der, sagte, daß seine bisherigen Versuche mißlungen seien,
    daß er endlich von ihnen ablassen solle, daß er zurückkehren
    und sich als ein für immer Zurückgekehrter von allen mit gro-
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    ßen Augen anstaunen lassen müsse, daß nur seine Freunde
    etwas verstünden und daß er ein altes Kind sei, das den er-
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    Franz Kafka: Erzählungen

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    folgreichen, zu Hause gebliebenen Freunden einfach zu folgen
    habe. Und war es dann noch sicher, daß alle die Plage, die
    man ihm antun müßte, einen Zweck hätte? Vielleicht gelang es
    nicht einmal, ihn überhaupt nach Hause zu bringen er sagte ja
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    selbst, daß er die Verhältnisse in der Heimat nicht mehr ver-
    stünde-, und so bliebe er dann trotz allem in seiner Fremde,
    verbittert durch die Ratschläge und den Freunden noch ein
    Stock mehr entfremdet. Folgte er aber wirklich dem Rat und
    würde hier natürlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsa-
    10
    chen niedergedrückt, fände sich nicht in seinen Freunden und
    nicht ohne sie zurecht, litte an Beschämung, hätte jetzt wirk-
    lich keine Heimat und keine Freunde mehr, war es da nicht viel
    besser für ihn, er blieb in der Fremde, so wie er war? Konnte
    man denn bei solchen Umständen daran denken, daß er es
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    hier tatsächlich vorwärtsbringen würde?
    Aus diesen Gründen konnte man ihm, wenn man noch über-
    haupt die briefliche Verbindung aufrechterhalten wollte, keine
    eigentlichen Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu
    auch den entferntesten Bekannten machen würde. Der Freund
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    war nun schon über drei Jahre nicht in der Heimat gewesen
    und erklärte dies sehr notdürftig mit der Unsicherheit der poli-
    tischen Verhältnisse in Rußland, die demnach also auch die
    kürzeste Abwesenheit eines kleinen Geschäftsmannes nicht
    zuließen, während hunderttausende Russen ruhig in der Welt
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    herumfuhren. Im Laufe dieser drei Jahre hatte sich aber gera-
    de für Georg vieles verändert. Von dem Todesfall von Georgs
    Mutter, der vor etwa zwei Jahren erfolgt war und seit welchem
    Georg mit seinem alten Vater in gemeinsamer Wirtschaft lebte,
    hatte der Freund wohl noch erfahren
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